Zurück
11.11.2022 | Literaturkritik

»Wovon wir träumen« von Lin Hierse: Ein Roman über Träume, Identität und Familie

von Sabrina Siebert

In ihrem 2022 erschienenen Debüt „Wovon wir träumen“ begleitet die Journalistin und Autorin Lin Hierse die Protagonistin auf der Suche nach ihrer eigenen Identität.

Die Handlung beginnt mit der jungen Frau, die nach China reist, um ihre Großmutter zu beerdigen. Neben ihr steht ihre Mutter, die das Land vor vielen Jahren verließ, allerdings nicht für ein besseres Leben, sondern für ein anderes. Der Roman spielt vor dieser deutsch-chinesischen Migrationsgeschichte, bietet jedoch noch viele weitere Facetten: Er stellt Fragen nach Nähe, Distanz, Abgrenzung, nicht zuletzt nach Herkunft, und ist vordergründig die Geschichte einer Mutter-Tochter-Beziehung, in der all diese Themen einen Aushandlungsort finden.

Die Beerdigung der chinesischen Großmutter veranlasst die Protagonistin dazu, sich Fragen zum Leben dieser Frau sowie gleichzeitig dem ihrer Mutter zu stellen, bevor diese China verließ. Die Suche nach einem festen Platz in der Welt schwingt dabei stets mit, sowohl im Blick zurück in die Geschichte ihrer Familie als auch im Blick auf ihr eigenes Leben. Es findet eine Spurensuche in den Erinnerungen aus dem früheren Leben der Mutter statt, die auch von dem schmerzhaften Abschied von ihrer Heimat erzählen. Die Tochter bewegt sich in der Beziehung zu ihrer Mutter zwischen Annäherung, dem „Alles-Richtig-Machen-Wollen“ und der bewussten Abgrenzung, dem Bedürfnis danach anders zu sein als sie. So wird ein Friseurbesuch oder das Kochen von Reis zu mehr als einem alltäglichen Akt - vielmehr findet in ihnen eine Auseinandersetzung mit an sich selbst gestellten und von außen herangetragenen Erwartungen statt. In dem Verhältnis zu ihrer Mutter handelt sie ihre Zugehörigkeit, ihre eigene Identität aus.

„Jetzt frage ich mich, ob es überhaupt jemals eine Balance geben kann zwischen dem Wunsch, dazuzugehören und dem Wunsch, einzigartig zu sein.“

Der Roman erzeugt mit seiner klaren, reduzierten Sprache, gepaart mit anschaulichen und ergreifenden Bildern eine traumhafte Atmosphäre, die einen als Leser:in umhüllt. Das Motiv des Traumes zieht sich zudem durch die gesamte Geschichte, in Form von Lebensträumen, erfüllten und geplatzten Träumen, oder wirklich geträumten Illusionen.

„Eine Träumerin ist man nicht einfach so, man muss es sich vornehmen, und das kostet Kräfte. Du weißt das, vielleicht besser als alle anderen. Du hast so viel getan, damit ich mir erlauben kann zu träumen.“

Lin Hierse behandelt das Thema der Identitätssuche mit einer poetischen und sensiblen Sprache, entwirft eine komplexe und gefühlvolle Mutter-Tochter-Beziehung und schafft es, die Suche einer jungen Frau nach ihrem Platz zwischen den Kulturen ergreifend zu erzählen und gleichzeitig mit einem, bislang wenig thematisierten, Kapitel deutsch-chinesischer Geschichte zu verknüpfen.

„Mein Name soll chinesisch sein, und es den Leuten trotzdem leicht machen. Während wir um Pfützen herumtänzeln, denke ich, dass ich möglicherweise genau deshalb so bin, wie ich bin. Eine, die versucht, chinesisch zu sein und dabei trotzdem leicht verdaulich, obwohl beides zusammen eher aussichtslos ist.“