Zurück

Prof. Dr. Anne Lisa Carstensen

Mit meinem Fokus auf die globale Arbeiter:innenbewegung und Themen von Migration und Geschlechtergerechtigkeit bin ich daher im Kassel Institute for Sustainability an der richtigen Stelle. Denn ich bin fest davon überzeugt, dass Gesellschaft veränderbar ist und es sich lohnt, über Alternativen nachzudenken, gerade in Krisenzeiten.

Interview

Was genau erforscht Ihr Fachgebiet?

Mein Fachgebiet untersucht Fragen zu Macht und Politik in der globalen Weltwirtschaft aus einer ganz besonderen Perspektive – nämlich der Perspektive der Arbeit. Denn Politik, Demokratie und Wirtschaft finden nicht nur in der Sphäre der politischen Institutionen und Unternehmen statt, sie haben auch ganz wesentlich damit zu tun, wo und unter welchen Bedingungen Menschen in verschiedensten Bereichen arbeiten. Über Arbeit und ihre Produkte sind wir alle weltweit miteinander verbunden. Arbeit ist zentrales Moment der Produktion von Ressourcen, aber auch der gesellschaftlichen Teilhabe. Die meisten Menschen müssen arbeiten – und zwar unter sehr unterschiedlichen Bedingungen. Uns interessiert, wovon diese Bedingungen abhängen aber auch, wie sie verändert werden können. Dabei nehmen wir eine Perspektive „von unten“ ein und betrachten Konflikte um Transformation aus der Sicht derjenigen, die am meisten davon betroffen sind. Deswegen stehen auch die Themen prekäre Arbeit und Migration im Mittelpunkt unserer Forschungen. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf einer globalen Perspektive, denn Arbeit kann heutzutage nicht mehr im Rahmen nationalstaatlicher Kategorien verstanden werden. Auch ist es uns wichtig, den Blick nicht auf das Feld der Lohnarbeit zu beschränken, sondern das Thema der sozialen Reproduktion und die sozial- und entwicklungspolitischen Rahmenbedingungen von Arbeit mit in den Blick zu nehmen. Aus dieser Perspektive wird auch deutlich, dass soziale und ökologische Forderungen eigentlich selten im Konflikt miteinander stehen, sondern sich meistens gut ergänzen. 

Welche konkreten Fragen oder Probleme versuchen Sie derzeit zu lösen?

Für mich war eine globale Perspektive auf Gesellschaft schon immer zentral und der Austausch mit Kolleg*innen aus aller Welt ist mir sehr wichtig. An der Universität Kassel bin ich daher voll in meinem Element! Mein Fachgebiet verantwortet den Masterstudiengang Labour Policies and Globalisation (LPG). Das ist ein einjähriges Studienprogramm, welches sich an Gewerkschafter*innen aus aller Welt richtet. Sie lernen und forschen hier zu Themen von Politik, Recht und Wirtschaft. Gerade weil die Studierenden schon viele Praxiserfahrungen haben, bringen sie spannende eigene Perspektiven und Erfahrungen ein. Mit den Studierenden und Alumni dieses Programms haben wir einen spannenden Reflexionsprozess über drängende Herausforderungen der Gewerkschaftsbewegung wie Klimawandel, Migration und Wirtschaftskrise geschaffen. Das Programm steht im Kontext des internationalen Forschungs- und Bildungsnetzwerk Global Labour University (GLU), welches eng mit der globalen Gewerkschaftsbewegung verbunden ist. An insgesamt fünf Standorten (Brasilien, Indien, Südafrika, Philippinen, Deutschland) unterrichten und forschen meine Kolleg:innen und ich zu aktuellen Fragen auf dem Feld globalisierter Arbeitsbeziehungen. Die Themen soziale Gerechtigkeit, sozial-ökologische Transformation und Geschlechtergerechtigkeit spielen dabei natürlich auch eine große Rolle. In den letzten Jahren diskutieren wir aber auch verstärkt, wie sich Digitalisierung, globale Lieferketten, Migration und die Zunahme autoritärer Regime auf die Bedingungen von Arbeit und die Gestaltungsspielräume von Gewerkschaften auswirken. Gerade in den heutigen Zeiten ist die internationale Zusammenarbeit in Forschung und Lehre sowie der Austausch mit Praktiker:innen extrem wichtig. 

Was ist Ihr aktuell wichtigstes Forschungsprojekt und warum?

Ich beschäftige mich bereits seit einigen Jahren an der Frage, welche Rolle Zeit in der individuellen und kollektiven Wahrnehmung von Konflikten und sozialem Wandel spielt. Konkret interessiert mich die Bedeutung individueller Zeithorizonte dafür, wie Menschen ihre Arbeit wahrnehmen und welche Möglichkeiten sie sehen, etwas an ihrer Situation zu verändern. Aber auch auf der Ebene der Erfahrungen und Regulierung von Migration ist Zeit von großer Bedeutung. Auch Politiken und organisationale Prozesse haben immer eine eigene zeitliche Rationalität. Das ist gerade für das Verhältnis von Migration und Arbeit zentral, denn Migration geht oft mit der Idee einher, dass es sich um eine zeitlich begrenzte Phase handelt und Migrant:innen haben oftmals aufgrund rechtlicher Rahmenbedingungen eine Sonderstellung auf dem Arbeitsmarkt. Konkret arbeite ich gerade zusammen mit Dr. Maren Kirchhoff an einem qualitativen Forschungsprojekt, welches die Bedeutung der Zeithorizonte von Beschäftigten in unterschiedlichen Branchen untersucht. Wir forschen zur Gebäudereinigung und der Saisonarbeit in der Landwirtschaft, also in Bereichen, die durch prekäre Arbeit geprägt sind. So können wir hoffentlich besser verstehen, wie Migrationsprozesse und Arbeitsbeziehungen sich gegenseitig bedingen und Konflikte um Arbeit besser verstehen. 

Was zeichnet Nachhaltigkeitsforschung am Kassel Institute for Sustainability aus?

Für mich ist klar, dass Perspektiven auf Nachhaltigkeit nicht im stillen Kämmerlein entstehen können und die sozial-ökologische Transformation nicht allein von „Expert:innen“ ausgedacht werden kann. Viel eher muss das Sprechen über Nachhaltigkeit breit in gesellschaftlichen Debatten und Diskursen verankert sein. Die Anerkennung von Perspektivenvielfalt sowie interdisziplinäre Zusammenarbeit helfen dabei, die entsprechenden Debatten voran zu bringen. Ich finde aber auch noch eine andere Sache wichtig: Das Kassel Institute for Sustainability setzt auf einen breiten Nachhaltigkeitsbegriff. Nachhaltigkeit ist dann nicht auf die Frage technischer Innovationen zur Reduktion von Co2- Emissionen beschränkt, sondern beinhaltet eine umfassende Perspektive auf gesellschaftliche Entwicklung. Dabei haben auch Fragen sozialer Gerechtigkeit und demokratischer Aushandlungsmechanismen eine große Bedeutung. Als Politikwissenschaftlerin weiß ich, dass solche Fragen mit Macht und Interessen verknüpft sind – gerade das macht es interessant. 

 

Wenn wir Transformation als einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel verstehen wollen, dann müssen wir uns mit vielfältigen Perspektiven auseinandersetzen und dabei auch ganz grundlegende und vielleicht unerwartete Fragen aufwerfen, Interessenskonflikte benennen und Zielvorstellungen transparent machen. Ein gutes Beispiel ist die Frage, ob gerade eigentlich mehr oder weniger gearbeitet und produziert werden müsste, um gesellschaftliche Krisen zu bearbeiten.  

 

Mit meinem Fokus auf die globale Arbeiter:innenbewegung und Themen von Migration und Geschlechtergerechtigkeit bin ich daher im Kassel Institute for Sustainability an der richtigen Stelle. Denn ich bin fest davon überzeugt, dass Gesellschaft veränderbar ist und es sich lohnt, über Alternativen nachzudenken, gerade in Krisenzeiten.

 

 

Zurück