08.04.2020

„Das Europa der Werte gibt es nicht mehr“

@Corona-Virus

Und das ist auch gar nicht so schlimm, meint der Soziologe Prof. Dr. Heinz Bude. Wie die EU in der Coronakrise funktioniert, warum die Krise eine Epoche der Solidarität einläutet und was die gegenwärtige „Zwangsintimisierung“ bedeutet, erklärt er in diesem Interview.

Bild: Dawin Meckel.
Prof. Dr. Heinz Bude

Herr Professor Bude, wie werden wir aus dem Frühjahr 2021 auf die dann hoffentlich überstandene Krise zurückblicken? Wie wird sie unsere Gesellschaft verändert haben?

Diese Pandemie markiert den Schlussstrich unter eine 40 Jahre andauernde Periode, die mit dem Amtsantritt von Margaret Thatcher und Ronald Reagan begann. Politik und Gesellschaft setzten auf den Freiheitsdrang und die Selbstverantwortung der einzelnen Person, die sich im Wettbewerb stärkt und den Markt als Entdeckungsverfahren schätzt. Eigentum, Bildung und subjektive Rechte sollten die Subjekte in den Stand setzen, ein Leben nach eigener Fasson führen zu können. Winner-Take-All-Märkte feierten lachende Sieger und wer nicht mitkam, wurde der Schutzlosigkeit preisgegeben. Mit der Wahl von Donald Trump wurde klar, dass die Mehrheit in westlichen Gesellschaften nicht Freiheit, sondern Schutz sucht. Der Brexit, die Gelbwesten und die Bewegungen von rechts haben diese Wende auch für Europa bestätigt. 

Was tritt an die Stelle des Individualismus?

Das Leitbild der Solidarität. Solidarität wurde lange verstanden als etwas, das für die anderen da ist. Für jene, die nicht für sich selbst sorgen können. Als eine Hilfe also, die der Starke, sich herabbeugend, dem Schwachen anbietet. Das Virus hat alle mit einem Mal auf gleiche Augenhöhe gebracht. Weil wir als Einzelne verwundbar sind, sind wir aufeinander angewiesen. Solidarität bedeutet wechselseitige Hilfe. Wir bieten uns Schutz, indem wir voneinander Abstand halten. Solidarität wird so zu einer Praxis zwischen den Menschen, die den Umweg über das Volk nicht braucht. Trotzdem braucht diese Solidarität eine Verkörperung. Das ist in der Situation der Gefahr für das Gemeinwesen der Staat. Es gibt die plötzliche Erkenntnis von der Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft. Das ist kein autoritärer, kein patriarchaler Staat, sondern eine Staatlichkeit aus dem Geist der Solidarität.

Wenn, wie Sie feststellen, das Ideal des starken Individuums schon seit einigen Jahren bröckelt - ist das eine Reaktion auch auf Phänomene wie den Klimawandel?

Ja genau. Es geht um Schutz, um die Erkenntnis, dass auch starke Einzelne sich nicht retten können.

Nun zeigt uns die Coronakrise also den Wert der Solidarität. Macht sie es nicht gleichzeitig schwerer, diese Solidarität einzuüben?

Ich würde sagen, sie führt uns die Notwendigkeit der Solidarität vor Augen. Systemrelevant sind Pfleger und Krankenschwestern und Kassiererinnen. Die halten die Infrastruktur am Laufen, die wir brauchen und die uns Schutz bietet. Wenn die Coronakrise irgendwann vorbei ist, werden die Menschen, die das normale Funktionieren unserer Gesellschaft gewährleisten, ihren Preis einfordern. Und das ist gut so.

Aber zugleich erschwert die Krise die praktische Umsetzung von wechselseitiger Hilfe, oder nicht? Die Gelegenheiten und Orte zur Begegnung werden drastisch geringer.

Solidarität ist nicht bloß Empathie! Solidarität, das kann auch heißen: diszipliniert zu sein, füreinander Sorge zu tragen. Ein praktisches Beispiel: Wenn die Schulen noch länger geschlossen bleiben sollten, dann werden sich die Eltern untereinander verständigen, wie sie sich wechselseitig helfen können. Und das ganz unabhängig davon, ob sie eng befreundet sind oder denselben Erziehungsstil praktizieren. Auch die Arbeitgeber sind gefordert, sich mit ihren Beschäftigten Lösungen auszudenken, damit das Zuhause Arbeitsplatz und Schulort sein kann.

Bleiben wir bei den Familien. Mal zwei oder drei Wochen unfallfrei aufeinander zu hocken, kriegt man mit ein bisschen Zusammenreißen ja hin. Aber wenn nun alle Familien vier oder sechs oder acht Wochen aufeinander zurückgeworfen sind und gleichzeitig nur ein Minimum an leibhaftigen externen Kontakten haben – das muss doch Spuren hinterlassen, oder nicht?

Das ist eine Zwangsintimisierung, die irgendwann Probleme machen kann. Aber auch hier geht es um Solidarität, um Belastbarkeit, darum, Verantwortung zu übernehmen. Unsolidarisch wäre es, Hilfe immer nur vom anderen zu erwarten oder vom Staat.

Die Institution Familie ist ja seit jeher eine Schule der Solidarität…

In Situationen wie dieser merkt man zumindest, dass sie nicht so einfach ersetzbar ist. In den familialen Lebenswelten können Eltern und Kinder lernen, wie eine Einheit aus Differenzen entsteht. Da kracht es manchmal, aber man weiß auch, dass es Augenblicke gibt, wo allen klar ist, worum es geht.

Eine weitere folgenreiche Veränderung ist der enorme Schub für die Digitalisierung des Alltags. Die Online-Händler machen beste Geschäfte, das Home-Office funktioniert dank neu erlernter Programme, und nun soll auch noch eine Kontakt-App unser aller Behüter werden...

Moment! Es geht ja bei diesem deutschen Weg einer freiwilligen App eben nicht um eine zentrale Überwachung. Sondern um ein freiwilliges Instrument gegenseitiger Rücksichtnahme. Das begrüße ich ausdrücklich, zumindest dann, wenn es sich mit Sorge-Strukturen verbindet, also mit einer Verständigung darüber, wie ich meinen Nächsten schützen kann und wie ich jene, die sich in Quarantäne begeben, versorge.

Wird sich Solidarität auch auf europäischer Ebene zeigen? Werden wir den Italienern auf die Beine helfen?

Die EU hat sich nicht erst seit der Coronakrise in seine Grundfesten verändert. Es gibt kein europäisches Naturgesetz immer weiterer Einbeziehung und Vertiefung. Das alte Europa der Werte gibt es nicht mehr. Dafür gibt es jetzt ein Europa der gemeinsamen Probleme. Darin bewährt sich Solidarität nicht als Wert, sondern als Praxis. Das betrifft nicht nur Lieferketten und Flüchtlingsströme, sondern auch eine gegenseitige finanzielle Stützung. Schließlich sind die Vermögen der einen die Schulden der anderen.

Sie meinen, die Europäer sehen jetzt deutlich, dass sie alle in einem Boot sitzen, und deshalb muss auch jeder rudern.

Sie sagen es. Und das kann eine viel belastbarere Basis sein. Meine Formel ist Hoffnung ohne Optimismus.


Prof. Dr. Heinz Bude leitet das Fachgebiet Makrosoziologie an der Universität Kassel. Sein Buch „Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee“ erschien vor fast genau einem Jahr. 

Interview: Sebastian Mense