„Die Wissenschaft muss gestaltungsorientiert werden“
Die Lebens- und Wirtschaftsweise westlicher Gesellschaften ist nicht verallgemeinerbar – weder für die gesamte Welt heute noch für künftige Generationen. Westliche Gesellschaften leben über ihre Verhältnisse und gefährden die Grundlagen des Lebens. Sie dezimieren freilebende Tier- und Pflanzenarten, überfischen die Weltmeere und füllen sie mit Abfällen, erschöpfen nicht erneuerbare Ressourcen und verändern das planetare Klima dramatisch.
Notwendig ist ein neues, der Verantwortung für die Zukunft angemessenes Entwicklungsziel. Dieses sieht die Weltgemeinschaft seit der Umweltkonferenz in Rio de Janeiro 1992 in einer nachhaltigen Entwicklung. Dieses Ziel ist zwar ursprünglich durch die notwendige Verbesserung der Umweltsituation motiviert, aber von Anfang an nicht auf diese beschränkt. Nachhaltig ist eine Lebens- und Wirtschaftsweise, wenn sie gegenüber der gesamten Weltbevölkerung und gegenüber künftigen Generationen verantwortet werden kann. Sie darf der Umwelt als Lebengrundlage nur so viel entnehmen und sie nur soweit belasten, wie natürliche Entwicklungen dies verkraften. Sie muss Wirtschaftsprozesse so entwickeln, dass sie langfristig tragbar sind, und sie muss die Entwicklungschancen für alle heutigen und künftigen Mitmenschen gerecht verteilen.
Da allein eine ökologische Orientierung für eine nachhaltige Entwicklung unzureichend ist, enthält der Begriff der Nachhaltigkeit seit dem Brundtland-Report von 1987 drei Entwicklungsdimensionen: Nachhaltigkeit muss ökologisch, ökonomisch und sozial erreicht werden. Diese Entwicklungsziele sind nicht harmonisch, sondern konfliktär. Daher darf Politik kein Einzelziel zu Lasten der anderen Ziele maximieren, sondern muss eine optimiert abgestimmte Entwicklung aller drei Bereiche anstreben. Diese Entwicklung ist so komplex, dass immer mehr Unterziele der Nachhaltigkeit bestimmt werden. Die Vereinten Nationen haben 2016 hierfür 17 „Sustainable Development Goals“ beschlossen, die viele gesellschaftliche Bereiche abdecken. Um diese Ziele zu erreichen, ist eine große Transformation aller Lebens- und Wirtschaftsweisen, insbesondere der westlichen, erforderlich.
In diesem Prozess haben Universitäten eine doppelte gesellschaftliche Verantwortung: für das Erarbeiten vorbildlicher Entwicklungspfade und für die Veränderung des eigenen Verhaltens.
Wissenschaft muss Vorschläge erarbeiten, die zur ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltigen Entwicklung beitragen. In dieser Aufgabe muss sie sich inhaltlich und methodisch weiterentwickeln. Inhaltlich muss sie gestaltungsorientiert werden. Analysen und Erklärungen bilden die Grundlagen, Vorschläge müssen aber auf eine (Um-)Gestaltung von Lebens- und Wirtschaftsweisen zielen. Da hierfür nicht eine einzelne Wissenschaftsdisziplin zuständig ist, muss die Lösungssuche interdisziplinär und integrativ erfolgen. Darüber hinaus muss Wissenschaft sogar transdisziplinär und transformativ werden. Transdisziplinäre Forschung bindet sowohl für die Problembeschreibung als auch die Lösungsfindung Praxiswissen ein. Transformative Forschung reflektiert von Anfang an die Bedingungen (hemmende und fördernde Faktoren), die zur Umsetzung ihrer Handlungsempfehlungen notwendig sind.
Die Universität muss aber auch durch ihre Wirtschaftsweise einen vorbildlichen Beitrag zur Nachhaltigkeit liefern. In Hessen verbrauchen die Hochschulen die Hälfte der Energie der Landesverwaltung und verursachen die Hälfte der Klimagase. Weitere Bereiche, in denen sie sich verbessern müssen, sind etwa der Ressourcenverbrauch und das Abfallaufkommen.
Die Universität Kassel stellt sich beiden Verantwortungen. Sie greift das weite Verständnis von Nachhaltigkeit auf und zielt auf eine Universität, die auf einer langfristig tragfähigen ökonomischen Grundlage mit zufriedenen Mitarbeitern umweltgerecht wirtschaftet. In ihren Kernaufgaben Forschung, Lehre, Nachwuchsförderung und Wissenstransfer arbeitet sie an Lösungen, wie sich die Welt umweltverträglich, wirtschaftlich ausgeglichen und sozial gerecht entwickeln kann. Um diese Ziele umzusetzen, hat sie ein Nachhaltigkeitsmanagement etabliert, das Verbesserungsmaßnahmen koordiniert und über diese alle drei Jahre in einem Nachhaltigkeitsbericht Rechenschaft abgibt.
In ihren Nachhaltigkeitsanstrengungen bindet die Universität die Region Nordhessen mit ein und entwickelt in vielfältigen Kooperationen mit der nordhessischen Wirtschaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft transdisziplinär und transformativ Nachhaltigkeitslösungen, die umgesetzt und praktiziert werden.
Text: Prof. Dr. Alexander Roßnagel