08.09.2021 | Campus-Meldung

Studie PISUM: Pädagogische Intimität ohne Grenzverletzung

Das Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz in der professionellen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bedeutet für Fachkräfte der Sozialen Arbeit einen täglichen Balanceakt. Ein kooperatives Projekt der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS) und der Universität Kassel möchte hier unterstützen.

Das Forschungsprojekt „Pädagogische Intimität – Studie zur Untersuchung von Mustern der Gestaltung pädagogischer Beziehungen in unterschiedlichen Handlungsfeldern (PISUM)“ hat die Gestaltung von und Umgangsweisen mit Intimität in ausgewählten pädagogischen Handlungsfeldern und in Freizeitangeboten für Kinder und Jugendliche untersucht – davon ausgehend, dass Intimität, verstanden als die Gestaltung von intersubjektiver Nähe, einen genuinen Bestandteil von pädagogischen und sozialen Beziehungen in Schule, Sozialer Arbeit und auch in nicht genuinen Handlungsfeldern der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen darstellt.

Das kooperative Projekt der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS) und der Universität Kassel, geleitet von Prof. Dr. Michael Behnisch (Frankfurt UAS) sowie Prof. Dr. Alexandra Retkowski und Prof. Dr. Werner Thole (Universität Kassel), wurde gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Förderschwerpunkt „Forschung zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in pädagogischen Kontexten“.

„In PISUM wird Intimität als Gestaltung von Nähe verstanden“, erläutert Prof. Dr. Michael Behnisch, Professor für Methoden und Konzepte der Sozialen Arbeit am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Frankfurt UAS und einer der Projektleiter, den Forschungsansatz. „Intimität ist ein wichtiger Bestandteil von pädagogischen Beziehungen zu Kindern und Jugendlichen. In der Studie wurden Handlungsformen und Bedingungen ,guter Nähe‘ erforscht, um mit diesem Wissen zur Verhinderung von Grenzverletzungen beitragen zu können.“

Das Forschungsvorhaben ging davon aus, dass pädagogische Nähebeziehungen und die Herstellung von Intimität kein größeres Risiko für sexualisierte Grenzüberschreitungen bergen – im Gegenteil: Die Gestaltung von ,guter Nähe‘ ermöglicht Vertrauen, Offenbarungsprozesse und Enttabuisierungen in Bezug auf Sexualität und Vulnerabilität. „Das Erleben von Intimität in sozialen und pädagogischen Räumen stützt und fördert die Entfaltung kindlicher Subjektivität, stellt einen Schutzfaktor vor sexualisierter Gewalt dar und schafft erst die Bedingungen, die unter anderem auch ermöglichen, Formen sexualisierter Gewalt zu offenbaren“, so Behnisch.

Unter seiner Leitung untersuchte ein Teilprojekt das Handlungsfeld der Heimerziehung. Zum Forscherteam gehörten insbesondere die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projekts, Dorothee Schäfer (MA, Soziale Arbeit) sowie studentische Mitarbeiterinnen. Das Team nahm in sechs Einrichtungen der stationären Jugendhilfe eine Zeit lang am pädagogischen Alltag teil und führte neben diesen ethnografischen Beobachtungen 21 Interviews mit Fachkräften, Kindern und Jugendlichen.

Wie wird Nähe in den Wohngruppen der Heimerziehung zwischen den Beteiligten hergestellt, welche Praktiken und Dimensionen erzeugen Nähe? Unter welchen Bedingungen entwickeln sich gute, schützende und fördernde Nähebeziehungen? Welche Formen pädagogischer Intimität gibt es, die deutlich abzugrenzen sind von Formen der Sexualisierung?

Ziel war herauszuarbeiten, wie sich pädagogische Beziehungen – die in der Heimerziehung als ‚pädagogischem Lebensort‘ stets durch Nähe und Intimität in pädagogischen Handlungsfeldern geprägt sind – empirisch darstellen. Das zweite Ziel bestand in einer Systematisierung von Handlungsmustern pädagogischer Nähe und Intimität, um Gestaltungsmuster ‚guter Nähe‘ und pädagogischer Intimität zu systematisieren. Mit Hilfe dieser systematisierten Muster konnten Prämissen und Normen definiert werden, um Risiko- und Schutzfaktoren bezüglich sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in pädagogischen Beziehungen nicht nur beschreibbar zu machen, sondern auch das Risiko sexualisierter Gewalt in Einrichtungen der Jugendhilfe zu reduzieren.

Das ausgewertete Forschungsmaterial zeigt, dass gute Nähe bzw. Intimität in der Heimerziehung zunächst zwei Strukturmerkmale umfasst: Intimität ist – erstens – stets nur zu verstehen als ‚hybrides Geschehen‘ innerhalb einer Heimwohngruppe, in der private, intime Momente des Alltagslebens parallel neben den institutionellen Strukturen öffentlicher Erziehung existieren.
Intimität umfasst – zweitens – immer verschiedene Dimensionen wie Körper, Sprache, Dinge, Zeiten, Geschlecht und Räume, die zusammenwirken, oftmals einen symbolisch-nonverbalen Gehalt umfassen.

Darüber hinaus stellt Partizipation, Transparenz, Generalisierbarkeit und Subjektorientierung zentrale Prämissen eines gelingenden Umgangs mit Intimität in der Heimerziehung dar. Flankiert werden diese Prämissen durch Handlungsnormen, die in die Verantwortung des pädagogischen Handelns fallen: Die Gestaltung pädagogischer Nähe muss berufliche Rollen und Machtstrukturen in pädagogischen Beziehungen reflektieren, ist aufgaben- und bildungsorientiert ausgerichtet und wird gerahmt durch institutionelle Verantwortung.

Das Zusammenspiel dieser Prämissen und Normen schließlich kann – damit zum vierten Ergebnis der Forschungsbefunde – dazu beitragen, dass das Risiko sexualisierter Übergriffe in der Heimerziehung reduziert wird.

Hinsichtlich des wissenschaftlichen Nutzens können die Forschungsergebnisse wichtige Erkenntnisse liefern für verwandte wissenschaftliche Diskurse über z.B. pädagogische Beziehungen in der Jugendhilfe oder für die Disclosure-Forschung, die sich mit der Aufdeckung von sexualisierter Gewalt befasst.

Fachpolitisch konnten die Forschungsergebnisse bereits Eingang finden in das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) finanzierte und vom Fachverband IGfH (Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen) organisierte „Zukunftsforum Heimerziehung“. „Die Erkenntnisse des PISUM-Projekts haben damit einen Beitrag zur fachlichen Weiterentwicklung des Handlungsfeldes geleistet“, resümieren Behnisch und Schäfer.

Dies gilt auch mit Blick auf die verschiedenen interdisziplinären Kinderschutzveranstaltungen der Frankfurt UAS in Kooperation mit der Goethe-Universität Frankfurt und der Uniklinik Frankfurt (Kinderschutzambulanz): Auch hier finden die Forschungsergebnisse Eingang. Im Ausbildungsbereich trägt die Forschungsanalyse – etwa durch Seminarveranstaltungen – dazu bei, dass Studierende sensibilisiert und informiert werden hinsichtlich der Möglichkeiten und Bedingungen zur Gestaltung von Nähe-Beziehungen in der Heimerziehung, die geeignet sind, die Gefahr sexualisierter Gewalt zu reduzieren.

Das im Dezember 2021 erscheinende Buch „Professionelle Nähe in der Heimerziehung“ richtet sich in praxisorientierter Weise unmittelbar an die Fachkräfte der Heimerziehung und stellt die Forschungsergebnisse des PISUM-Projekts in anschaulicher Form dar.