19.12.2018 | Porträts und Geschichten

Erfindung mit Aussicht

Der Bergfried der Löwenburg ist wiedererstanden - auch dank Erfindungsgeist aus der Uni.

Bild: Uni Kassel

Es ist die Wiederherstellung einer Ruine in ihren ruinösen Originalzustand – aber was für ein Bauwerk ist das! Für rund 30 Millionen Euro richtet derzeit das Land Hessen die Löwenburg im Bergpark Wilhelmshöhe wieder her. Weithin sichtbares Prunkstück ist der Bergfried, der in den vergangenen zweieinhalb Jahren 30 Meter in die Höhe wuchs und jetzt wieder so dasteht wie vor seiner Zerstörung im zweiten Weltkrieg. Letzte Arbeiten an der Fassade finden in diesen Wochen statt.

Möglich gemacht hat dies eine materialwissenschaftliche Erfindung aus der Universität Kassel: künstlicher Tuffstein. Als Baumeister Heinrich Christoph Jussow das Lustschloss im ausgehenden 18. Jahrhundert für Landgraf Wilhelm IX. von Hessen-Kassel errichtete, schuf er die bezaubernde Nachbildung einer mittelalterlichen Burgruine und ein kunstgeschichtlich hochbedeutendes Bauwerk – und halste der Nachwelt jede Menge Probleme auf. Denn als Baumaterial wählte Jussow den Habichtswalder Tuff. Das dunkle, schnell verwitternde Gestein unterstrich den romantischen Ruinen-Charakter, war in der Nähe verfügbar und leicht zu bearbeiten, als Baumaterial aber eigentlich ungeeignet: Bereits nach kurzer Zeit fing der Tuffstein an zu bröckeln, seitdem ist die Löwenburg ein Dauer-Sanierungsfall. Den stolzen Hauptturm reduzierte in den letzten Tagen des zweiten Weltkrieges obendrein eine amerikanische Fliegerbombe auf seinen Stumpf. Den originalgetreuen Wiederaufbau ermöglichte nun eine Entwicklung des vormaligen Leiters der amtlichen  Materialprüfungsanstalt AMPA an der Uni Kassel, Peter Machner: „Beim Abbau von Tuff fällt bis zu 80 Prozent Abfall an“, erläutert er. Machner entwickelte in Versuchsreihen einen Kunststein, letztlich einen Beton, in  dem zerkleinerter Tuff-Abfall die Rolle der Gesteinskörnung übernimmt. Der Landesbetrieb Bau und Immobilien Hessen,
die Museumslandschaft Hessen Kassel, das Landesamt für Denkmalpflege sowie freiberufliche Steinrestauratoren und ausführende Firmen trugen dazu bei, dass der künstliche Tuff nun der Löwenburg hilft.

„Weder hinsichtlich seiner gesteinstechnischen Eigenschaften noch seiner optischen Qualitäten“ müsse er einen Vergleich mit dem Naturstein scheuen, urteilt der Katalog der Museumslandschaft Hessen-Kassel zur Löwenburg. Im Gegenteil: Er ist witterungsbeständiger und fester und löst obendrein noch ein weiteres Problem: Der echte Habichtswalder Tuff geht zur Neige, die Steinbrüche der Region sind fast erschöpft. Ohne den künstlichen Nachschub wäre die Restaurierung schwierig geworden. Alle 4500 Steine des Turmes sind Unikate. Historische Unterlagen lieferten Lage und Maße jedes Blocks, die dann zunächst als 3-D Modell im Computer entstanden.
Eine Thüringer Firma produzierte die Steine, die AMPA selber überprüfte die Materialqualität. Mit der Entwicklung und Praxistauglichkeit des Kunst-Tuffs haben sich auch die Aussichten für zukünftige Restaurierungen an anderen Gebäuden des Bergparks verbessert. Es ist bereits das dritte Mal, das der Bergfried erstanden ist: Der erste, mangelhafte
Bau hielt nur 50 Jahre, der zweite war solider und überdauerte bis 1945. In den kommenden Jahren rekonstruieren die Bauleute das Innere des Turmes und restaurieren
überdies weite Teile der restlichen Löwenburg. Nach seiner Wiedereröffnung etwa 2022 wird der viergeschossige Turm den Besuchern zunächst die Bibliothek, später auch den Rittersaal und den historischen Speisesaal präsentieren. Besucher können dann eine Aussichtsplattform betreten und einen spektakulären Blick auf den Bergpark
und die Stadt Kassel genießen. Erfindung mit Aussicht Der Bergfried der Löwenburg ist wiedererstanden – auch dank Erfindungsgeist aus der Uni Die AMPA prüft im Auftrag privater und öffentlicher Auftraggeber mineralische und metallische Werkstoffe, analysiert Schäden, untersucht den Zustand von Bauwerken aus Stahl, Beton, Mauerwerk und
erstellt Instandsetzungskonzepte. Ein relativ neuer Arbeitsbereich ist die Überwachung von On- und Offshore-Windkraftanlagen.

 

 

Dieser Artikel ist erschienen in der publik 4/2018 (18.12.2018). 

 

 

Von Sebastian Mense