12.06.2019 | Porträts und Geschichten

"Gleichstellung heißt mehr als nur Geschlecht"

Seit 30 Jahren gibt es Frauenbeauftragte und Gleichstellungsarbeit an der Universität Kassel.

Bild: Mense
Dr. Sylke Ernst, Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte

Seit 100 Jahren dürfen Frauen in Deutschland wählen und fast genauso lange dürfen sie studieren, habilitieren und Professorin werden. Aber weder in der Politik noch in der Wissenschaft ist nach 100 Jahren die Gleichstellung erreicht, trotz zahlreicher und vielfältiger Bemühungen in allen gesellschaftlichen Bereichen seit über 50 Jahren. Vor 30 Jahren – am 1. April 1989 – wurde die erste Frauenbeauftragte vom Präsidenten der Gesamthochschule Kassel bestellt. Dies geschah, noch bevor das Hessische Gleichberechtigungsgesetz Mitte der 90er Jahre in Kraft trat und Frauenbeauftragte für Hochschulen verpflichtend vorsah. Vor allem Studentinnen und Mitarbeiterinnen aus dem wissenschaftlichen Mittelbau hatten sich an der Reformhochschule engagiert. Sie hatten sich

für feministische Seminare, für die Beteiligung von Dozentinnen an der Lehre, für Professuren mit dem Schwerpunkt Frauenforschung und nicht zuletzt für die Institutionalisierung von Gleichstellungsarbeit und Frauenbeauftragten eingesetzt. Der lange Atem aller Akteurinnen hat sich gelohnt, heute ist Gleichstellungsarbeit fester und selbstverständlicher Teil der Hochschule, die Gleichstellungsarbeit wird von zahlreichen Frauen-­ und Gleichstellungsbeauftragten und Gleichstellungsakteuren aus den Fachbereichen getragen und das Frauen- ­ und Gleichstellungsbüro der Universität Kassel entwickelt die Gleichstellungsstrategien weiter und bietet ein differenziertes Beratungs- und Unterstützungsangebot.

Die Geschichte der Frauen und der Gleichstellungsarbeit an der Gesamthochschule und heutigen Universität Kassel wurde in einem Forschungsprojekt unter der Leitung von Prof. Dr. Mechthild Bereswill rekonstruiert. Dazu hat Sabine Stange Unterlagen aus dem Archiv der Universität Kassel in Marburg ausgewertet und Zeitzeuginnen befragt. Die Ergeb­nisse dieser Forschungsarbeit sind jetzt in der Publikation „30 Jahre Frauenbeauftragte – Gleichstellungarbeit an der Gesamthochschule/Universität Kassel“ veröffentlicht, die das Frauen-­ und Gleichstellungsbüro in einer öffentlichen Jubiläumsver­anstaltung am 25. Juni 2019 um 18 Uhr im Gießhaus vorstellen wird.

„Wir sind noch nicht am Ende“

„Es ist eine unglaubliche Entwicklung. Ich bin wirklich der Meinung, dass sich für Frauen sehr viel verändert hat in den Hochschulen. Es gibt inzwischen so viele Frauen, Studentinnen, Wissenschaftlerinnen, Professorinnen, die so toll und so selbstbewusst und so hochqualifiziert sind. [...] Unsere Generation kämpfte noch für Frauen in der Hochschule. Das ist heute selbstverständlich, sie sind eben ein deutlich wahrzunehmender Teil der Hochschule und der Wissenschaft und da haben sie ihren unverkennbaren Platz. Mit ihnen hat sich auch die Universität und die Wissenschaft verändert. Aber wir sind noch nicht am Ende.“ So fasst Prof. Dr.Neusel in der Publikation rückblickend die Entwicklung zusammen. Frau Neusel war als Vizepräsidentin maßgeblich an der Gründung des ersten fachübergreifenden Verbunds mit dem Schwerpunkt Frauenforschung an einer hessischen Hochschule im Jahr 1987 beteiligt, der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Frauen­- und Geschlechterforschung, sowie an der Einrichtung der ersten Frauenforschungsprofessur.

Die Arbeit im Frauen­ und Gleichstellungsbüro hat sich über die Jahre gewandelt, das macht die Jubiläumspublikation ebenfalls deutlich. Am Anfang stand die Frauenförderung im Vordergrund. Und viele Themen stehen immer noch auf der Agenda, wie z.B. das Thema Sicherheit, sexuelle Belästi gung oder die Vereinbarkeit von Beruf bzw. Studium mit Familienaufgaben. Selbstverteidigungskurse für Frauen gibt es seit 30 Jahren im Weiterbildungsprogramm der Universität Kassel. Aber vieles hat sich verändert: Das ehemalige „Büro der Frauenbeauftragten“ heißt heute „Frauen-­ und Gleichstellungsbüro“ und ist in den Arbeitsbereichen Geschlechtergleichstellung, Familie und Diversität aktiv. Die Angebote des Familienservice richten sich zunehmend auch an Männer und in den letzten Jahren wird zunehmend Diversität in den Blick genommen. Denn, wie es die ehemalige Vizepräsidentin Prof. Dr. Claudia Brinker ­von der Heyde im Gespräch formuliert: „Gleichstellung heißt mehr als nur Geschlecht.“

Die rekonstruierte Geschichte der Gleichstellungs arbeit macht deutlich, dass es mit vielen Hürden verbunden war, diese Strukturen durchzusetzen. Und dass sicher geglaubte Ziele immer wieder in Frage gestellt werden; zum Beispiel durch die aktuellen antifeministischen Debatten in der Wissenschaft und in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Auch dies wird in der Publikation deutlich.

Einen Kulturwandel vorantreiben

Weiterhin wird es konstruktive Diskussionen, breite Bündnisse und Mut zum Handeln brauchen, um einen Kulturwandel voranzutreiben und allen Mitgliedern der Universität Kassel die freie Entfaltung ihrer Leistungsfähigkeit in einer geschlechtergerechten und diskriminierungsfreien Universität zu gewährleisten.

 

Projekt Gleichstellungsconsulting

Im Rahmen einer Forschungskooperation haben Wissenschaftlerinnen in den vergangenen Monaten Gleichstellungsarbeit an der Schnittstelle von Wissenschaft und Verwaltung der Universität Kassel analysiert. Die Ergebnisse werden Ende des Jahres veröffentlicht. Mithilfe von qualitativen Methoden der Sozialforschung untersucht das Projekt „Gleichstellungsconsulting“ vor allem die folgenden Fragen:

  • Was bedeutet Gleichstellung in verschiedenen Fach- und Forschungsbereichen der Universität Kassel?
  • Welche fachspezifischen Bedürfnisse und Ansatzpunkte existieren in Hinblick auf Gleichstellung in verschiedenen Fächern und Fachbereichen?
  • Was beurteilen die befragten Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten der Fachbereiche als unterstützend oder hinderlich für Gleichstellung?
  • Wie kann man die Wünsche und Ideen der befragten Personen in ein Beratungskonzept überführen?

Das Projekt ist eine Forschungskooperation zwischen dem Fachgebiet Soziologie sozialer Differenzierung und Soziokultur unter der Leitung von Prof. Dr. Mechthild Bereswill und dem zentralen Frauen- und Gleichstellungsbüro der Universität unter der Leitung von Dr. Sylke Ernst. Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen des Projekts sind Salome Raczek und Dr. Marie-Theres Modes. Es startete zum Oktober 2017; die Finanzierung erfolgte durch das Professorinnenprogramm II. Die Wissenschaftlerinnen entwickelten ein Forschungsdesign mit zwei Bausteinen und adressierten unterschiedliche Gruppen: Durchgeführt wurde eine Studie mit qualitativen, leitfadengestützten Interviews mit Professorinnen und Professoren aller Fachbereiche. Darüber hinaus richtete sich eine zweiphasige Fragebogenstudie nach der Delphi-Methode an die dezentralen Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten. In den nächsten Monaten ist eine multimediale Präsentation der Projektergebnisse geplant, u.a. in Kooperation mit Joel Baumann, Rektor der Kunsthochschule und Professor für Neue Medien, und Absolventinnen und Absolventen. Bis zum Ende des Sommersemesters wird außerdem eine Broschüre mit Ergebnissen und Perspektiven für die Weiterentwicklung der Gleichstellungsarbeit an der Uni Kassel erstellt.

 

Von Sebastian Mense

Dieser Artikel ist in der Publik 02/2019 erschienen. Hier geht es zur vollständigen Ausgabe.