09.12.2020 | Berichte aus den Bereichen

"Das wird ausstrahlen weit über Kassel hinaus“

Nach mehr als 19 Jahren geht der Leitende Direktor der Universitätsbibliothek Dr. Axel Halle in den Ruhestand. In diesem Interview blickt er zurück und nach vorn.

Bild: Blafield.
Dr. Axel Halle.

Herr Halle, 19 Jahre – wie sehen Sie den Fortschritt der UB?

Jetzt muss ich ja mal ein bisschen zurückschauen. Ich denke, die UB ist sehr gut aufgestellt und wird in der Hochschule als Leistungsträger anerkannt. Die Dienstleistungen, die man heute von einer modernen Bibliothek erwarten kann, sind alle da. Und ich denke, wenn wir die Belastungen der beiden großen Umbauten hinter uns haben, wird umso deutlicher, welch hohe Qualität der Universität mit den insgesamt sechs Bibliotheksstandorten zur Verfügung steht.

Stichwort Bauprojekte: Mit welchen Gefühlen übergeben Sie die langjährigen und bislang nicht zu Ende geführten Sanierungsprojekte Campusbibliothek, Murhardsche und Standort Kunsthochschule?

Meine Vorstellung und mein Bestreben war, bis zu meinem Dienstende alles abgeschlossen zu haben. Denn man muss bedenken, dass die ersten Überlegungen für Sanierungen der Campusbibliothek bereits auf das Jahr 2004 zurückgehen. Und die ersten Pläne liefen darauf hinaus, dass 2012 hier alles fertig sein sollte. Bei der Murhardschen Bibliothek war es so, dass man 2001, als ich meinen Dienst angefangen habe, den Bedarf schon beim Betreten des Gebäudes sehen konnte. Dann ist 2004 die Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar abgebrannt. Ich habe an die damalige Ministerin in Hessen geschrieben, dass sowas auch bei uns passieren könnte. 2006 wurde dann der Baubedarf anerkannt. Auch dieses Gebäude sollte bis 2012 fertig sein. Nun, wir sehen es, beide Baumaßnahmen sind nicht abgeschlossen. Das finde ich bedauerlich für alle, die damit zu tun haben. Für die Kolleginnen und Kollegen, die die Erschwernisse zu ertragen haben, für die Nutzer, die Flächen nicht zur Verfügung haben, und für mich persönlich. Ich habe mich jetzt für zwei Gebäude etwa 15 Jahre lang engagiert, und natürlich hätte ich mir gewünscht, dass das alles schneller geht und fertig ist. Vor allem, dass das Baumanagement in Hessen effizienter läuft. Die Kolleginnen und Kollegen vom Landesbetrieb Bau und Immobilien Hessen bemühen sich alle, aber die Strukturen führen dazu, dass sich Baumaßnahmen stark verzögern.

 

Welche Anstrengungen wurden unternommen, um die UB immer auf der Höhe des technischen Fortschritts zu halten?

Es war ein breit gefächertes Spektrum. Die Bibliothek war 1998/99 reorganisiert worden. Das hatte den großen Vorteil, dass man nahe am Kunden war, also dienstleistungsorientiert. Gleichzeitig waren bestimmte heute übliche Dienstleistungen noch gar nicht vorhanden. Man konnte noch nicht elektronisch vormerken, es gab keine E-Mail-Benachrichtigung. Es gab keine elektronischen Mahnungen, keine Abholregale usw. Die starke Dienstleistungsorientierung, das Bemühen aller Kolleginnen und Kollegen, für die Nutzer das Maximum an Service zu erreichen, war neu zu unterfüttern durch moderne Dienstleistungen.

Wir sind natürlich auch eine ganze Menge Dinge angegangen, die andernorts ebenfalls begonnen wurden. Ende des letzten Jahrtausends haben Bibliotheken mit der Digitalisierung ihrer Bestände begonnen. So haben wir auch angefangen, unser historisches Erbe zu digitalisieren und elektronische Medien anzuschaffen.

Den Medienwandel haben wir von Anfang an in unsere Dienstleistungen einbezogen. Das bedeutet wiederum, dass auch organisatorische Anpassungen folgen mussten. Was dem Laien vielleicht nicht so deutlich ist, wenn wir immer mehr Digitales erwerben, brauchen wir spezialisierte Kollegen, beispielsweise für Lizenzrecht oder zum Verknüpfen von Datensätzen. Hier haben wir eine Gruppe E-Medien eingeführt. Vor einigen Jahren haben wir dann die Organisation der UB zentralisiert, weil die neuen Anforderungen, auch in ganz neuen Feldern, anders gar nicht zu bewältigen waren. Zugunsten von standortübergreifenden Abteilungen für Benutzung und Medienbearbeitung wurden die Bereichsbibliotheken abgeschafft.

Wie steht die UB im Vergleich zu anderen gleichgroßen Bibliotheken da?

Ich glaube, dass wir eine ganz stabile Basis haben, dass unsere Kundinnen und Kunden unsere Flexibilität, Servicequalität und Freundlichkeit schätzen. Wir haben einen außerordentlichen Fokus auf dem Aspekt einer so genannten Gebrauchsbibliothek. Das heißt, was gebraucht wird für die jetzige Forschung und Lehre, ist in hohem Maß vorhanden. Man sieht das z.B. an den Fernleihzahlen, die sind deutlich zurückgegangen, weil wir inzwischen eine deutlich bessere Informationsversorgung haben. Wir haben alle modernen Dienstleistungen eingeführt, die es heute für die Informationsversorgung braucht. Es gibt ein digitales Rückgaberegal, Servicetheken, ein Backoffice und Vieles mehr. Begleitend dazu wurden auch die Kommunikationswege erweitert: Feste Infozeiten für telefonische Anfragen und E-Mails, dazu Facebook und Instagram. Das heißt, jeder, der eine Frage an uns hat, bekommt schnell Antwort. Dinge, die Außenstehenden nicht so gegenwärtig sind, machen wir natürlich inzwischen auch: Forschungsdatenmanagement als Beispiel. Wir kooperieren mit anderen Hochschulen in Hessen im Bereich Langzeitarchivierung und so weiter. Ein anderer ganz wichtiger Bereich Seit 2003 engagieren wir uns für Open Access 2005 haben wir als zweite deutsche Uni eine OA-Empfehlung beschlossen und seit 2013 gibt es einen eigenen OA-Fonds. Freier Zugang zur Wissenschaft auf allen Kanälen ist von elementarer Bedeutung.

 

In welchen Themenbereichen war die UB Kassel Vorreiterin?

Vorreiter waren wir eher in den Dingen, die man nicht so statistisch mit anderen vergleichen kann. Bei den Dienstleistungen, die ich eben erwähnt habe, waren wir sicherlich Vorreiter und haben das ganz konsequent ausgebaut. Die Selbstbedienungsfunktionen, die elektronischen Benachrichtigungen, Abholregale und so weiter. Hier sind Kolleginnen und Kollegen aus anderen Bibliotheken gekommen, um sich die starke Leistungsfähigkeit im Self-Service anzuschauen. Ein weiterer Aspekt, den ich bisher nicht erwähnt habe: Wir sprechen seit 2008 vom Lernort Bibliothek. Dies zeigt deutlich, dass wir die Studierenden in den Mittelpunkt des Alltagsgeschäfts stellen, so haben wir die Zahl der Nutzerarbeitsplätze deutlich erhöht und die Aufenthaltsqualität verbessert. Auch bei der Einführung eines Discovery Systems waren wir als Pilotbibliothek in Hessen ganz vorn dabei. Dabei wurde der Suchraum des Kasseler Katalogportals KARLA um ein Vielfaches erweitert. Die Recherche ermöglichte erstmals die direkte Suche bis auf die Ebene von Aufsätzen und weltweit zugänglichen Informationsressourcen.

 

 

 

Welches sind die Perspektiven mit Blick auf Digitalisierung vs. Kundennähe?

Im Bereich der Digitalisierung des historischen Erbes unserer Bibliothek gibt es noch jede Menge zu tun. Hier machen wir zunächst kundenorientiert weiter, das heißt, es wird auf Anfrage und sukzessive digitalisiert. Wir führen das in Portalen ORKA und Grimm zusammen und speisen das in die Europeana und in die Deutsche Digitale Bibliothek ein.

Der entscheidende Schritt zu noch mehr Kundennähe wird mit dem Abschluss der großen Baumaßnahmen erreicht. Von da an verfügt die UB über eine hohe Aufenthaltsqualität in beiden Häusern. In der Murhardschen wird es darüber hinaus hervorragende Voraussetzungen für die Präsentation unseres historischen Erbes geben. Hier wird die Universitätsbibliothek auch im Ausstellungsraum mit neuen Medien arbeiten, sodass in den präsentierten Originalen digital und komfortabel geblättert werden kann. Das wird ausstrahlen weit über Kassel und die Region hinaus.

Welches sind die Perspektiven der UB mit Blick auf die Transformation des Publikations- und Verlagswesens?

Als vielleicht einzige deutsche Universitätsbibliothek bieten wir bereits heute das gesamte Serviceportfolio des Publikations- und Verlagswesens, fokussieren uns dabei auf alles Aspekte des Open Access-Publizierens. Wir bieten Unterstützung von der Beratung über das Publizieren, den dauerhaften Zugriff bis hin zur Finanzierung. Dieses werden wir auch in Zukunft fortsetzen. Bereits heute ist es uns möglich, Publikationen auch mit Forschungsdaten zu verknüpfen. Dieser Aspekt wird sicherlich in Zukunft deutlich an Bedeutung zunehmen.

 

Welches sind die Perspektiven mit Blick auf die Rolle der UB als Forschungsbibliothek?

Der Begriff der Forschungsbibliothek ist natürlich ein relativ schillernder: Als Forschungsbibliotheken gelten meistens die wenigen herausragenden Bibliotheken mit außerordentlich viel Geld und einem umfassenden, historisch gewachsenen Bestand. Das können wir uns nicht leisten und die Hochschule auch nicht. Aber: Wir haben mit der Landesbibliothek einen Riesenfundus an historischen Dokumenten, darunter einmalige und wertvolle Bestände. Diese Quellen zugänglich zu machen und der Forschung weltweit kostenfrei zur Verfügung zu stellen ist eine große Aufgabe, die noch Jahre andauern wird. Ein Beispiel: Frühneuzeitliche Handschriften, die wir in großer Zahl in der Landesbibliothek haben, sind noch gar nicht digitalisiert, teilweise sind sie nicht einmal katalogisiert, darin stecken enorme Ressourcen für Forschung, nicht nur der Regionalkunde, sondern weit darüber hinaus. Aber auch beim Thema Grimm ist die UB durchaus Forschungsbibliothek. Hier arbeiten wir u.a. mit Prof. Ehrhardt intensiv zusammen, kooperieren mit verschiedenen Institutionen, die Grimmbestände haben. Ich bin froh über die sehr gute Arbeitsbeziehung mit der Stadt Kassel und dem Staatsarchiv Marburg. Ein weiterer Partner, mit dem wir in nächster Zeit enger zusammenarbeiten, ist die Staatsbibliothek zu Berlin. Ziel ist, möglichst alles, was einschlägig für die Grimmforschung von Bedeutung ist, im Grimmportal abzubilden. Und die Arbeit ist noch lange nicht vollendet, auch wenn wir bereits viel erreicht haben.

Wie hat sich die Bekanntheit der Historischen Schätze entwickelt?

Derzeit sind wir digital präsent, aber zum Bekanntmachen von kulturellen Gütern gehört unbedingt das reale Objekt in Ausstellungsvitrinen, das erklärt wird, das dem Laien zugänglich ist. Hier haben wir seit 2012 ein echtes Handicap. Bis dahin haben wir den Eulensaal bespielt. Wir konnten Stücke aus unseren Beständen zeigen, Publikationen präsentieren, haben mit Hochschulangehörigen zahlreiche Veranstaltungen gemacht, aber das musste entfallen, weil die Sanierung vor der Tür stand und wir den Platz gebraucht habe. Das wird erst überwunden sein, wenn die Baumaßnahme fertig ist.

Zur Bekanntheit hat seit 2018 außerdem unser neues Crowdsourcing-Tool beigetragen. Bürgerbeteiligung zu fördern und die Verbindung zu stärken zwischen Experten der Region und der Bibliothek als deren Schatzkammer. Damit kann jeder mit den vorhandenen Texten und Bildern nicht nur lesend arbeiten, sondern auch beschreiben, transkribieren oder transliterieren. In den zurückliegenden 19 Jahren waren wir darüber hinaus bemüht, historische Lücken zu schließen. Wir haben zwei bedeutende Nachlässe erworben, einmal Franz Rosenzweig, von außerordentlicher Bedeutung für Kassel und das deutsche Judentum in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts und dann Hans Jürgen von der Wense, ein vielleicht nicht so bekannter Schriftsteller, dessen Nachlass außerordentlich umfangreich ist und der wirklich ganz intensiv genutzt wird. Vergangenes Jahr konnten wir außerdem mit der Restitution der Bestände Walkemühle unsere Recherchen zu NS-Raubgut positiv abschließen, was mir persönlich sehr am Herzen lag.

Inwiefern hat sich die Stellung der UB an der Hochschule in den letzten 19 Jahren gewandelt?

Ich glaube generell wird, anders als Anfang des Jahrtausends, die UB von Studierenden als der bevorzugte Lernort genutzt. Von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wird anerkannt, dass wir die Dienstleistungen schnell und umsichtig erbringen, dass wir flexibel auf neue Anforderungen reagieren und trotz knapper Mittel ein Optimum der Informationsversorgung bieten. Und dass an allen Bibliotheksstandorten immer freundliche Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Die Bibliothek sieht man als Gebäude, aber sie wird eben auch als das Team von Menschen gesehen, die sich täglich um Transparenz und guten Service bemühen. Und das auf unterschiedlichen Kanälen, von der Beratung an der Servicetheke über die Beantwortung von Anrufen und Mails bis zu Schulungen, Videos und der Kommunikation in den sozialen Medien.

 

Resümierend: Welche Themen standen für Sie persönlich am stärksten im Fokus Ihrer Amtszeit?

Da waren zum einen Ausbau und Modernisierung aller Services, aber auch die Anpassung der Organisation an die Anforderungen der digitalen Ära. Das ist der erste große Komplex. Das heißt im Tagesgeschäft natürlich viel Personalmanagement. Und das füllt schon sehr aus, gerade auch mit dem Wunsch, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mitzunehmen

Ein zweiter großer Komplex war natürlich ab 2006 die Bauplanung. Ich habe hunderte von Sitzungen erlebt. Im Ergebnis erkennt man hoffentlich ein wenig die Handschrift, die gegen manchen Widerstand der Bauleute und Geldgeber zu realisieren war. Und der dritte, wenig spektakulär, aber nicht weniger wichtig: In Kassel gibt es wenig personelle Ressourcen und wenig Sachmittel im Vergleich zu anderen UBs. Mein Job war, mit knappen Ressourcen möglichst das, was zu tun ist, zu erreichen. Das ist eine Aufgabe, die mich jeden Tag beschäftigt hat.

Und schließlich war mir enorm wichtig, die Bibliothek wieder in der Stadtgesellschaft zu verwurzeln. Ich kann mich erinnern, kurz bevor ich 2001 meinen Dienst anfing, gab es den Hessischen Bibliothekstag in Kassel. Da lernte ich Leute kennen aus der Stadtgesellschaft, die sagten, „Wenn Sie nach Kassel kommen, machen Sie was aus dem Eulensaal.“ Das legte mir dann auch der damalige Präsident mit Dienstantritt ans Herz. Daraus wurden etwa 80 Eulensaal-Veranstaltungen, die bis in die Gegenwart nachwirken Mit meiner Nachfolgerin teile ich die Auffassung, dies, sobald die Möglichkeiten bestehen, wiederaufleben zu lassen. Nach der Sanierung werden dort moderne Veranstaltungstechnik und ein Cateringbereich vorhanden sein, sodass eine ganz neue Veranstaltungsqualität zu erwarten ist.

Interview: Sybille Kammler