Alltag oder Aufbruch
Wir können nicht zum Gewohnten zurück – das ist der Grundgedanke des „Pandemischen Manifests“, das der Kasseler Politikwissenschaftler Prof. Dr. Hans-Jürgen Burchardt Ende 2021 veröffentlicht hat. Darin entwirft er ein Programm, um die Corona-Pandemie als Zäsur und Chance zum Aufbruch zu verstehen: Ziel seien etwa die Reduzierung von Ungleichheit, die Begründung einer leistungsgerechten Gesellschaft, die Stärkung unseres Gemeinwohls und der Demokratie und die Etablierung einer nachhaltigen Wirtschaft. Im Interview mit der publik erläutert er seine Thesen.
publik: Wir schreiben das Jahr 2024, die Pandemie ist zu Ende. Alle haben ihren gewohnten Alltag wieder aufgenommen. Oder doch nicht? Wenn es nach Ihnen geht, ist das kein erstrebenswertes Szenario?
Hans-Jürgen Burchardt: Wir können nach der Pandemie versuchen, zum Alltag zurückzugehen. Oder wir nutzen die Krise und führen Veränderungen herbei, die uns vielleicht ein besseres Leben oder mindestens eine Absicherung gegenüber zukünftigen Krisen bieten. Das pandemische Manifest schlägt Letzteres vor. Es verändert sich ja bereits so manches. Vor Kurzem waren sich alle einig: Der Staat habe nur begrenzte Steuermöglichkeiten gegenüber Gesellschaft und Wirtschaft. Nun ist der Staat plötzlich wieder der zentrale Treiber geworden. Es gibt aber auch viele kleine Hinweise, zum Beispiel an den Universitäten. Hier wurden Vorteile, aber auch viele Nachteile und Grenzen der Digitalisierung sichtbar. Es wird also kein vollständiges Zurück geben. Die Frage ist, ob wir jetzt versuchen, die Zukunft aktiv zu gestalten.
publik: Was werden, was sollten die grundlegenden Veränderungen sein?
Burchardt: Wer durch die Krise am stärksten gelitten hat, muss entlastet werden. Sie erinnern sich an den Applaus für sogenannte `Systemrelevante´, meistens Frauen. Das Klatschen ist verhallt, die Arbeitsbedingungen derjenigen, die den Laden bis heute am Laufen halten, haben sich aber nicht verbessert. Wir brauchen jetzt ein Gesundheitssystem, das den Menschen und nicht die Ökonomie in den Mittelpunkt stellt. Ein steuerfinanziertes Sozialsystem und Gemeinwohl von allen für alle; eine Stärkung der regionalen Landwirtschaft; eine Wirtschaft und Politik, die weniger Pkw und Kreuzfahrtschiffe, stattdessen mehr öffentlichen Verkehr fördert. Eine Debatte, dass die Elektromobilität vielleicht bei uns den Klimaschutz fördert, woanders aber zu enormen Umweltbelastungen führt.
publik: Sie machen sehr viele Baustellen auf. Wollen Sie nicht zu viel?
Burchardt: Im Gegenteil! Das ist der Charakter eines Manifests: Es gibt vielfältige Anregungen für Veränderung. Wir leben in einer komplexen Gesellschaft. Auch Corona werden wir nicht mit einzelnen Lösungen bekämpfen können. Aktuell versuchen wir, die Pandemie wegzuimpfen, aber das reicht nicht. Denn nicht nur das Virus tötet, sondern auch soziale Ungleichheit. Schwache Bevölkerungsgruppen leiden wesentlich stärker. Das liegt nicht an Vorlieben des Virus, sondern an der Gesellschaft, beispielsweise an unserem hoch selektiven Schulsystem. Ein weiteres Problem ist die internationale Politik: Omikron konnte sich nur so stark ausbreiten, weil wir die Impf-Patente nicht freigeben. Wir müssen weltweit impfen und Länder des sogenannten Globalen Südens helfen, selbst Impf-Kapazitäten aufzubauen. Das Virus ist nicht das zentrale Problem, sondern die Art und Weise, wie wir damit umgehen.
publik: Die Pandemie ist ein Weckruf, um gesellschaftliche Probleme anzupacken, die schon länger bestehen?
Burchardt: Das Ende der Pandemie ist nicht das Ende der Krise. Der Klimawandel wird sehr bald zur Klimakatastrophe. Bisherige Wetterkatastrophen sind nur der Anfang. Seit mehreren Jahrzehnten sind es außerdem Zoonosen, also die Virus-Übertragung vom Tier auf den Menschen, die das Potenzial für Pandemien haben. Zoonosen werden durch industrielle Massentierhaltung begünstigt. So ist die nächste Pandemie schon programmiert. Deswegen müssen wir jetzt anfangen, Krisen-Antworten zu finden.
publik: Sie thematisieren soziale Ungleichheiten. Was haben die mit Corona zu tun?
Burchardt: Es geht um die Verteilung der Krisenkosten. Viele Menschen haben durch Corona verloren, Reiche und Superreiche sind aber oft noch reicher geworden, wie der jüngste Oxfam-Bericht eindrücklich zeigt. Diese Reichen werden bisher kaum an den Krisenkosten beteiligt. Dies können wir zum Beispiel durch ein faireres Steuersystem, eine einmalige Vermögensabgabe und höhere Erbschaftssteuern erreichen. Das liberale Versprechen des meritokratischen Prinzips, also sozialer Aufstieg durch Leistung, wird durch wachsende Reichtumskonzentration immer stärker ausgehebelt. Ein Beispiel: Der neueste Median-Nettovermögensvergleich zeigt, dass Deutschland bei den Startchancen der jungen Generation heute zu den Schlusslichtern Europas gehört. Nicht die Bürokratie, sondern die exzessive Reichtumskonzentration ist also ein zentraler Grund für die abnehmende Innovation und Leistungsfähigkeit im Land. Das kann man leicht ändern, beispielsweise durch ein „Erbe für alle“, wobei der Staat allen 25-Jährigen ein Startkapital in Höhe von 60 Prozent des nationalen Durchschnittsvermögens überlässt. Für den französischen Ökonomen Piketty lässt sich diese Maßnahme mit fünf Prozent Steueraufkommen aus Vermögens- und Erbschaftsteuern solide finanzieren.
Dieser Beitrag erschien im Universitäts-Magazin publik 2022/1. Text: Dennis Müller