01.03.2022 | Porträts und Geschichten

Krokodile im Keller

Was Jagdtrophäen über die Kolonialzeit aussagen – und wie Forschende der Uni dies ergründen

Tropenbewohner in nordhessischem Keller: Im Tiefgeschoss des Völkerkundlichen Museums Witzenhausen lagerten jahrzehntelang Gehörne und Tierpräparate aus fernen Ländern in Holzkisten und blauen Plastiksäcken. Doch jetzt untersuchen Forscherinnen und Forscher der Universität die Bestände – und ergründen damit auch ein Stück Kolonialgeschichte.

„Inzwischen haben wir alles auf den Dachboden gebracht“, sagt Student Maximilian Preuss und blickt dabei in die Augen eines wilden Tieres, eines grüngelb geschuppten Krokodils mit spitzem Maul. Um den Oberkiefer hat jemand eine dünne Schnur mit einem kleinen Zettel für die Inventarnummer gebunden. Daneben steht ein rund 25 Kilogramm schwerer Nilpferdschädel. „Vorsicht, die Zähne sind scharf“, warnt Preuss. Er studiert Geschichte und Öffentlichkeit an der Uni Kassel und schreibt seine Masterthesis zur kolonialen Jagd. Wenn er gerade nicht schreibt, dann entstaubt, vermisst, wiegt und inventarisiert er im Dachgeschoss des Völkerkundlichen Museums Gehörne, Schädel, Häute und Felle. Um seinen Schreibtisch liegen tierische Überreste. Einen davon holt Preuss behutsam aus einem Umzugskarton: die Haut einer vier Meter langen Anakonda. Während er die Reste der Tropenbewohnerin ablegt, arbeitet hinter ihm ein kleiner Heizlüfter gegen die Winterkälte an.

Über 100 tierische Überreste aus Regionen des Globalen Südens kamen nach Witzenhausen. „Viele wurden von Absolventen der Kolonialschule als Anschauungsobjekte zu Lehrzwecken hierher geschickt“, weiß Medizin- und Wissenschaftshistorikerin Dr. Marion Hulverscheidt. Die Deutsche Kolonialschule für Landwirtschaft, Handel und Gewerbe bildete Landwirte aus, um tropische Regionen der Erde für das Kaiserreich zu erschließen. Mit einem Team aus Forschenden unterschiedlicher Fachrichtungen nimmt Hulverscheidt sich der Sammlung an. „Unser Ziel: Erfassen, was da ist, die Herkunft bestimmen und aufbereiten“, erklärt sie. Dr. Christian Hülsebusch ergänzt: „Geplant ist, die Objekte in unsere Dauerausstellung zu integrieren. Dabei soll besonders das Verhältnis zwischen Mensch und Tier in verschiedenen Kulturkreisen thematisiert werden. Das reicht vom Natur- und Artenschutz bis hin zu verschiedenen – teilweise auch abartigen – Spielarten der Trophäenjagd.“ Hülsebusch ist Leiter des Deutschen Instituts für tropische und subtropische Landwirtschaft (DITSL) und im jährlichen Wechsel mit Witzenhausens Bürgermeister Vorsitzender der Stiftung, die das Museum trägt und betreibt. Wann die Objekte für die Öffentlichkeit zugänglich sein werden, ist noch unklar.

Die Jagdtrophäen sind Relikte der imperialen Vergangenheit Deutschlands. Viele der Absolventen der Kolonialschule, der so genannten „Kulturpioniere“, gingen auf Großwildjagd. Sie wurden angehalten, Objekte aus den Kolonien zu Lehrzwecken nach Witzenhausen zu schicken, und so kamen auch Jagdtrophäen nach Deutschland. Gehörne und Tierpräparate gehörten dazu. Das DITSL als Rechtsnachfolger der Kolonialschule erbte alle Bestände. „Weil damals alles, was mit fremden Kulturen zu tun hatte, der Völkerkunde zugerechnet wurde, trägt auch die Stiftung den Namen Stiftung Völkerkundliches Museum Witzenhausen. Ausgestellt ist hier aber die Sammlung des DITSL, die auf die Lehrsammlungen der ehemaligen Kolonialschule zurückgeht“, erklärt Hülsebusch. „Wir zeigen Speere, Schmuck, Statuen, Instrumente und Alltagsgegenstände aus unterschiedlichen Gegenden der Welt. Jagdtrophäen oder Teile von Tieren wurden damals eher der Naturkunde zugeordnet und daher eingelagert. Eigentlich verdeutlichen die Exponate aber lediglich die Sichtweise der hier ausgebildeten Auswanderer auf einzelne Aspekte der anderen Kultur – daher sehe ich die Aufgabe des Museums nicht in der Völkerkunde, sondern in der Verdeutlichung der lokalen Kolonialvergangenheit und ihrer Wirkungen bis heute.“

Noch heute erhält das Museum Ausstellungsstücke als Spenden von Nachfahren ehemaliger Kolonialschüler, Entwicklungshelfer oder Auslandsmitarbeiter von Unternehmen, auch Jagdtrophäen. „Oft können die Nachfahren nichts damit anfangen. Für den Jäger von unschätzbarem Wert, werden sie für die Erben zur Last. Gehörne im Wohnzimmer wollen sie nicht, ein Herrenzimmer haben sie nicht mehr und so gaben und geben sie die Stücke nach Witzenhausen. Hier wurden sie über Jahre im Keller eingelagert“, beschreibt Hulverscheidt den Weg.

Für die Forschung haben die Gegenstände jedoch einen Wert. „Für uns sind das nicht einfach tote Dinge. Es sind Wissensspeicher, die uns einen Zugang zur Vergangenheit verschaffen“, bekräftigt Linda Knop, Kunstwissenschaftlerin am Fachgebiet Neuere und Neueste Geschichte der Universität. „Sie erzählen von Praktiken der Jagd, von Techniken des Präparierens von Tieren und von der damaligen Gesellschaft.“ So sind sie ein Zeichen des damaligen Männlichkeitsideals und waren auch eine Selbstbestätigung für den Jäger. Die Trophäen schafften es in die heimischen Wohnzimmer und sollten ein Stück Natur und Ursprünglichkeit in die Stadt bringen. Knop: „Heute kennen wir die Savanne aus Film und Fernsehen. Wenn es auch meist stark vereinfacht ist, haben wir dennoch ein Bild im Kopf, das wir abrufen können. Anfang des 20. Jahrhunderts war das anders.“  Trophäen seien auch Erinnerungsstücke gewesen: „Doch sie waren keineswegs natürlich. Durch die Art der Präparation zeigen sie ein romantisiertes Bild der Wildnis, das wenig mit der wirklichen Herkunft zu tun hat.“ Diese liegt für den Großteil der Witzenhäuser Sammlung im östlichen und im südlichen Afrika, konkreter auf dem Gebiet der heutigen Staaten Tansania und Namibia. So gelangten unter anderem die Überreste von Antilopen, Elefanten, Nashörnern und Krokodilen nach Deutschland.

Zu Kulturschätzen aus ehemaligen Kolonien gibt es seit Jahrzehnten teils heftige Diskussionen. Fragen nach der Herkunft werden gestellt und Rückgaben gefordert, teilweise mit Erfolg. Ein Beispiel sind die sogenannten Benin-Bronzen, die Briten bei der Eroberung des Königreiches Benin im heutigen Nigeria erbeuteten und nach Europa brachten, einige Stücke befinden sich auch in deutschen Museen. Inzwischen wurde für manche Benin-Bronzen die Rückgabe an Nigeria beschlossen. 

Auch das Museum Witzenhausen hat bereits Erfahrung mit der Rückführung von Objekten aus ehemaligen Kolonien. Im Jahre 2013 erwähnte eine Studentin in ihrer Masterarbeit einen menschlichen Schädel auf dem Dachboden des Museums. Dessen Eintrag im alten Inventarverzeichnis wies auf einen kolonialen Unrechtskontext. „Statt den Fund einfach wieder in der Sammlung verschwinden zu lassen, wollten wir die Sache sauber aufarbeiten“, erzählt Hulverscheidt. Die Forschenden fanden heraus, dass es sich um den Schädel einer jungen Nama-Frau handelte, der 1907 nach Deutschland kam und der Lehrsammlung einverleibt wurde. Es folgten die Provenienzrecherche und die Installation eines Erinnerungsobjektes im Museum. Anschließend wurde der Schädel im August 2018 nach Namibia überführt.

Bei Jagdtrophäen gibt es solche Diskurse bisher nicht. „Kaum jemand will diese Objekte zurückhaben“, weiß Hülsebusch. „Sie lagern zahlreich in vielen deutschen Museen und verstauben dort“, ergänzt Hulverscheidt. „Ihre Geschichte wird noch kaum erforscht. Dabei gehören auch sie zweifellos zum kulturellen Erbe der ehemaligen Kolonien und zu unserer damit verwobenen Geschichte.“

Das Museum Witzenhausen ist von April bis Oktober immer mittwochs und sonntags von 15 bis 17 Uhr geöffnet. Nach Absprache können auch individuelle Führungen für Gruppen zu anderen Zeiten vereinbart werden.

Dieser Beitrag erschien im Universitäts-Magazin publik 2022/1. Text: Dennis Müller | Fotos: Lukas Jank