09.11.2022 | Porträts und Geschichten

„Theater ist ein wunderbarer Melting Pot“

Mira Birkenbach, Leiterin des Uni-Theaters, im Interview über ihre Theaterbegeisterung und „Die letzten Tage der Menschheit“ als Herausforderung.

Bild: Andreas Fischer
Leiterin Mira Birkenbach im September bei ersten Proben mit dem Ensemble

Mira Birkenbach (23) absolvierte nach dem Abi ein Freiwilliges soziales Jahr in der Kultur am Schauspiel Frankfurt und studiert nun Philosophie und Mathematik im 3. Semester. Seit diesem Jahr leitet sie das neu gegründete Theater der Universität, kurz Uni-Theater. Derzeit probt das zwölfköpfige Ensemble für die erste Aufführung im Herbst. Auf dem Programm steht eines der umfangreichsten Dramen, die je geschrieben wurden: „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus.

Woher kommt Ihre Begeisterung für das Theater?
Schon in der Schule war mir klar, dass ich etwas mit Theater machen wollte. Allerdings nicht als Darstellerin, sondern als Regisseurin, das stand schon ziemlich früh fest. In Frankfurt konnte ich den Regisseuren bereits assistieren und ihnen über die Schulter schauen. Von dieser Erfahrung profitiere ich. Sie studieren Philosophie und Mathematik.

Läge ein Germanistikstudium bei Ihrer Theateraffinität nicht näher?
Theater ist für mich mehr als werk- getreue Umsetzung eines Textes. Es ist etwas Eigenes mit besonderer Qualität. Orientiert man sich lediglich an der schriftlichen Vorlage, wird man ihr nicht gerecht. Text und Autorschaft sind natürlich wichtig, aber diesen möchte ich nicht die Autorität über alle weiteren Aspekte einräumen. Theater ist ein wunderbarer Melting Pot, in welchem ganz viele Bereiche zusammenkommen: Performance, bildende Kunst, Musik, Sprache. Philosophie hilft dabei, den Gedanken im Theater eine physische Manifestation zu geben.

Und Mathematik?
Mathe studiere ich zum Spaß. Ich brauche einen Ausgleich zu den vielen Worten.

Von daher passt ja, dass in Kassel Interdisziplinarität großgeschrieben wird.
Richtig. Ich wollte von vornherein Studierende aller Fachbereiche an- sprechen. Es geht mir um lebendigen Austausch. Unser Theater soll Ort der Begegnung sein, das gilt auch für das Ensemble. Diese Vernetzung der Studiengänge wird von der Unileitung nicht nur gewünscht, sondern auch gefördert und gelebt. Das ist nichts, was nur hübsch in Broschüren klingt.

Bild: Andreas Fischer

Ihre Vorgänger, Volker Hänel und Ulrike Birgmeier, haben das STUK, das Studententheater der Uni, bis zur Auflösung 2020 sehr erfolgreich 20 Jahre geleitet. Damit treten Sie ein großes Erbe an.
Das kann man so sagen. Ich hatte die beiden vor zwei Jahren angeschrieben, um zu fragen, wie es mit dem Theater weitergehen soll. Da wusste ich nicht, dass sie sich bereits zurückgezogen hatten. Wir trafen uns und ihnen gefiel mein Konzept. Sie gaben mir praktisch ihren Segen und damit wandte ich mich ans Präsidium, das meine Arbeit nun fördert. Der Plan ist, dass das neue Uni-Theater mindestens ebenfalls 20 Jahre existiert. Ich möchte zunächst Strukturen anbahnen, inszenieren, Rat und Wissen weitergeben, sodass es später – von wem auch immer – weitergeführt werden kann.

Kommen wir zu Karl Kraus. „Die letzten Tage der Menschheit“ sind ein rund siebenhundertseitiges Riesenwerk, dessen Aufführung, laut Kraus, „nach irdischem Zeitmaß etwa zehn Abende umfassen würde“. Das Drama wurde ja noch nie vollständig inszeniert. Wie gehen Sie vor?
Wir beschränken uns radikal, konzentrieren uns auf den Epilog und beziehen auch das Vorwort mit ein, setzen also eine Klammer. Unsere Aufführung wird etwas über eine Stunde lang sein. Lieber richtig intensiv und mit Wow-Effekt, als dass die Zuschauer nachher sagen „jetzt ist aber auch mal gut“.

Haben Sie und das Ensemble mit diesem ersten Stück die Messlatte nicht sehr hoch gehängt?
Ich neige ein bisschen zu Größenwahn (lacht). Irgendwas Einfaches kann ja jeder. Mich und das Ensemble hat dieser Albtraum über den Krieg und den Untergang der Menschheit fasziniert. Wichtig ist uns der thematische Transfer des Stücks in die Gegenwart, ist es doch zeitlos und nach wie vor sehr aktuell.

Warum?
Kraus sagt, wer Zeuge des Grauens des 1. Weltkriegs war, wer diese Zeit überstanden hat, ohne wahnsinnig zu werden, hat sich schon schuldig gemacht. Ist es heute nicht genauso? Wer sich das Theaterstück anschaue, möge, so Kraus, das „Recht zu lachen hinter die Pflicht zu weinen“ stellen. Das ist eine Generalkritik an den Menschen und unheimlich stark und zeitgemäß. Denn es wirft letztlich die Frage auf, wieviel Verantwortung wir füreinander haben.

Karl Kraus

Der Wiener Schriftsteller und Journalist Karl Kraus (1874–1936) gab von 1899 bis zu seinem Tod die Zeitschrift „Die Fackel“ heraus, deren sämtliche Beiträge, von einigen Ausnahmen abgesehen, er selbst schrieb. Hier erschien 1918 / 19 auch sein Weltkriegsdrama „Die letzten Tage der Menschheit“, an dem er seit 1915 gearbeitet hatte. 1922, also vor genau 100 Jahren, kam die endgültige Ausgabe heraus, bestehend aus fünf Akten mit 220 Szenen und einem Epilog. Mehrere hundert erfundene wie reale Personen treten in dieser gigantischen Kollage aus Zeitungsberichten, Feuilletons, Zitaten, notierten Gesprächen auf. Kraus nahm damit das moderne Dokumentartheater vorweg. Satire, Wahn- und Wortwitz gehen Hand in Hand: „Phrasen stehen auf zwei Beinen – Menschen behielten nur eines“, so Kraus im Vorwort.


Interview: Andreas Gebhardt
Dieser Text erschien im Hochschulmagazin publik 3/2022 vom 10. Oktober 2022.