12.12.2023 | Porträts und Geschichten

Aus der Ukraine an die Uni Kassel

Wie geht es den Menschen heute, die im letzten Jahr aus der Ukraine nach Deutschland fliehen mussten? Wir haben mit drei Frauen gesprochen

Bild: Andreas Fischer
Die Deutschbücher sind immer dabei: Anna, Yulia und Lisa (v.l.) müssen mehrere Stunden pro Tag lernen, um mit dem Unterrichtstempo Schritt zu halten.

"Du fährst in die Heimat                             

Und alles wird irgendwie kleiner             

Und irgendwie leiser                                 

Du fährst in die Heimat                          

Nach so langer Zeit und                         

Auf einmal vergleichst du                      

Den, der hier weggeht                            

Mit dem, der du jetzt bist"                  

 

„Alle Fragen“ von AnnenMayKantereit ist nur eines von Annas deutschen Lieblingsliedern: „Ich erkenne mich im Text wieder“, sagt sie und nimmt einen Schluck vom schwarzen Tee. Wer sich in ein fremdes Land aufmacht, der hat es oft nicht leicht. Wer aber Hals über Kopf die Koffer packen muss, um aus seiner Heimat vor dem Krieg zu fliehen, für den ist es umso schwerer. Anna (19), Yulia (36) und Lisa (20) haben genau das erlebt. Sie mussten im Frühjahr 2022 nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ihre Heimatstädte Kyiv, Charkiw und Odessa verlassen. Heute leben sie in Kassel und besuchen gemeinsam einen Sprachkurs des Internationalen Studienzentrums (ISZ) / Sprachenzentrums der Uni Kassel.

Wir sind zum Kaffee auf dem Campus verabredet. Einen Termin zu finden war nicht einfach, denn auch nach dem Kurs von 9–13.15 Uhr müssen die drei mehrere Stunden täglich lernen. Kassel kommt den Frauen ziemlich klein vor, erzählen sie – alle drei kommen schließlich aus Millionenstädten. Aber sie fühlen sich wohl; Yulia wünscht sich sogar, mit ihrer achtjährigen Tochter für immer zu bleiben. Als die beiden in Kassel ankamen, wurden sie zunächst von einer Pfarrersfamilie aufgenommen, die zwar selbst wenig Platz hatte, aber für Mutter und Kind das kleine Pfarrbüro räumte. „Ich bin unendlich dankbar und immer noch ein wenig verblüfft, wie großzügig wir aufgenommen wurden.“ Seit einiger Zeit leben die beiden in ihrer eigenen Wohnung. Ihre Tochter hat sich gut eingelebt und besucht eine deutsche Schule. „Sie hat viel schneller Deutsch gelernt als ich!“ Yulia ist promovierte Juristin. Für die Zukunft wünscht sie sich, ihre Habilitationsschrift zu verfassen und Professorin zu werden – vielleicht sogar an einer deutschen Uni. Die Sprache ist für sie auf diesem Weg eine große Hürde, aber Yulia ist zuversichtlich: „Ich konnte fast kein Wort Deutsch, als ich hier ankam. Am ISZ wurde ich, nachdem sie erfahren haben, dass ich einen Doktortitel habe, trotzdem ermutigt, direkt mit dem B1-Kurs zu starten“, einem Kurs auf höherem Sprachniveau also. Am Anfang habe sie gezweifelt, „aber dann dachte ich: Wenn die mir das zutrauen, dann traue ich es mir auch zu. Jetzt weiß ich, es war genau die richtige Entscheidung.“

Auch für Anna war das Deutschlernen ein Sprung ins kalte Wasser. Hinzukommt, dass es ihr oft schwerfällt, sich aufs Lernen zu konzentrieren, wegen des Krieges in ihrer Heimat: „Ich bin in Gedanken oft dort und mache mir große Sorgen.“ Sie ist mit 19 Jahren die jüngste der drei Frauen und kam gemeinsam mit ihrer Mutter nach Deutschland. Zunächst lebten die beiden in einer Unterkunft, später wurden auch sie von einer Familie aufgenommen. Bevor der Krieg ausbrach, studierte Anna in Kyiv Journalismus. Aktuell legt sie ein Urlaubssemester ein. In Kassel versucht sie in der Zwischenzeit, ihre journalistischen Kenntnisse zu vertiefen; im April hat sie ein Praktikum beim News-Portal Nordhessen-Rundschau gemacht und dort erste eigene Pressetexte geschrieben – natürlich auf Deutsch. Tipps zum Deutschlernen hat Anna einige: „Im Alltag Deutsch sprechen, deutsche Serien schauen und natürlich die Musik haben mir sehr geholfen, mein Alltagsdeutsch zu verbessern und mehr über die deutsche Kultur zu erfahren.“ In der deutschen Musiklandschaft kennen alle drei sich bestens aus: Lisa hört gern deutsche christliche Pop-Bands aus der Worship-Szene, Anna mag es folkig und zu Yulias Favoriten gehören Apache 207, Peter Fox und Luna.

Lisa konnte im Gegensatz zu den anderen beiden Frauen schon etwas Deutsch, als sie im Frühjahr letzten Jahres in Kassel ankam, denn in Odessa hat sie Deutsch als Schulfach studiert, um Lehrerin zu werden. Trotzdem sprach sie nach ihrer Ankunft zunächst meistens Englisch, auch aus Angst, Fehler zu machen. „Das habe ich aber schnell wieder abgelegt. Man kann hier nicht leben, ohne die Sprache zu sprechen. Ich habe auch gemerkt, dass die Leute einen meistens schon verstehen, auch wenn man sich nicht perfekt ausdrückt.“ In Kassel ist sie nun als Austauschstudentin eingeschrieben in den Lehramtsfächern Deutsch und Englisch.

Selbst die Deutschen sprechen manchmal nicht druckreif, hat sie festgestellt: „Es gibt zum Beispiel den Trend, den Genitiv durch den Dativ zu ersetzen, das fand ich am Anfang sehr verwirrend.“ Wie die anderen Frauen wurde Lisa zunächst privat aufgenommen, nun wohnt sie mit einigen anderen ukrainischen Studentinnen in einer WG. „Die Deutschen sind sehr nett, aber richtige Freundschaften mit ihnen zu bilden, ist schwer.“ Ihr Wunsch für die Zukunft ist es, sich in ihre beiden Lehramtsfächer in Deutschland regulär einschreiben zu können und irgendwann in Deutschland als Lehrerin zu arbeiten. Für dieses Ziel gilt es vor allem ein Hindernis zu bewältigen: Um sich in einen deutschsprachigen Studiengang einschreiben zu können, müssen internationale Studierende zunächst die „DSH“ („Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang“) erfolgreich absolvieren.

Darauf bereitet der Kurs, den die drei besuchen, gezielt vor. Er wird gefördert vom Deutschen Akademischen Austauschdienst. Jeden Tag leitet eine andere Dozentin den Unterricht, das finden sie gut, denn jede habe eine andere Herangehensweise und setze andere Schwerpunkte: „Eine Dozentin ist Grammatikexpertin, eine andere übt mit uns viel den mündlichen Ausdruck. Meine Lieblingsdozentin macht immer kleine Wettbewerbe oder Spiele mit uns. Sie vergibt auch mal Extrapunkte für Humor bei unseren Texten. So fällt mir das Lernen viel leichter,“ findet Yulia. Lisa gefällt, dass der Unterricht digitalisiert ist und hybrid stattfindet: „Meistens gehen wir hin, weil wir finden, dass man so am meisten lernt. Aber wenn das mal nicht geht, weil zum Beispiel ein Handwerker kommt oder ich einen Termin habe, dann kann ich zuhause am Unterricht teilnehmen oder die Inhalte selbstständig auf Moodle nacharbeiten.“ Der Kurs geht noch bis Mitte Dezember. Ob das Programm für Geflüchtete da - nach weiter gefördert wird, steht noch in den Sternen. Alle drei hoffen aber, dass sie noch einen Kurs anschließen können.

Yulia, Anna und Lisa hätten sich ohne den Krieg nie getroffen, sagen sie mir zum Schluss. Jetzt sind sie Freundinnen, unterstützen sich gegenseitig auf ihrem Weg. Nach einer Stunde Gespräch verabschieden wir uns, die drei haben heute noch viel zu tun.

Bild: Andreas Fischer

Tipps für internationale Studierende

Das Internationale Studienzentrum (ISZ) / Sprachenzentrum der Uni Kassel bietet eine breite Palette an Sprachkursen an und unterstützt internationale Studierende zum Beispiel mit Buddy- und Tandem-Programmen, einer Schreibberatung und gemeinsamen Freizeitaktivitäten.

Einer, der dabei mithilft, ist Fernando Esquivel (23) aus Nicaragua. Er selbst kam im März 2019 nach Deutschland und verstand zunächst nur wenig Deutsch. In Deutschland fühlte Fernando sich erst mal nicht wohl und wollte wieder nachhause: „Meine Familie, das warme Wetter in Nicaragua, die Kultur – all das habe ich sehr vermisst.“ Mittlerweile will er bleiben. Er studiert an der Uni Kassel Psychologie im fünften Semester – auf Deutsch. Nebenbei arbeitet er für das ISZ. Dort organisiert er im Projekt „SprachenEr-Leben“ Ausflüge und Aktivitäten für andere internationale Studierende. Außerdem betreut er den internationalen Tisch in der Mensa. Hier treffen sich dienstags und mittwochs internationale Studierende zum Mittagessen und sprechen ganz ungezwungen Deutsch. Aber auch Deutsche sind willkommen und andere Fremdsprachen können geübt werden.

Sein Rat für alle, die aus der Ferne zum Studieren an eine deutsche Uni kommen: „Nehmt unsere Angebote wahr. So findet ihr schnell Freunde und lernt nebenbei Deutsch. Und: Ihr schafft das! Messt euch nicht an euren deutschen Kommilitonen; ihr lernt während des Studiums eine neue Sprache – klar, dass man für manche Aufgaben auch mal etwas länger braucht. Deswegen seid ihr fachlich nicht schlechter.“

Mehr Infos zu den Angeboten des ISZ für internationale Studierende:
ISZ / Sprachenzentrum – Support International

Mehr zu den Deutschkursen am ISZ:
Kursangebot – Deutsch

 

Dieser Beitrag erschien im Universitäts-Magazin publik 2023/4. Text: Maya Burkhardt