23.05.2018 | Porträts und Geschichten

„Wir dürfen den Maschinen nicht immer ähnlicher werden“

Die Soziologin Prof. Dr. Kerstin Jürgens forscht seit Jahren zur Digitalisierung der Arbeit und den Folgen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. 2015 bis 2017 leitete sie gemeinsam mit dem DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann die Kommission „Arbeit der Zukunft“ der Hans-Böckler-Stiftung. Mit dem Uni-Magazin "publik" spricht sie über Arbeit im Zeitalter der Roboter, die Rolle des Menschen und einen öffentlichen Stimmungswechsel.

Bild: Sonja Rode/Lichtfang.

publik: Frau Jürgens, wie arbeiten unsere Kinder in 30 Jahren?
Jürgens: In vielen Bereichen gar nicht so viel anders als heute. Es gibt viele Bereiche, etwa die Gesundheitsversorgung, die Erziehung, die soziale Arbeit, in denen neue Technologien nur bis zu einem gewissen Grad einsetzbar sind. Manche Berufe werden aber schwinden oder verschwinden, andere hinzukommen. Der Mensch wird nicht überflüssig, aber dennoch ist die Digitalisierung ein Prozess der Umwälzung.

publik: Das Thema technologischer Wandel ist angstbesetzt. Sind wir Getriebene quasi einer Naturgewalt oder lässt sich der Wandel gestalten?
Jürgens: Hinter diesem Wandel stehen Entscheidungen von Menschen, selbstverständlich lässt er sich gestalten. Das verbreitete Gefühl der Hilflosigkeit rührt eher von der hohen Taktung des technologischen und gesellschaftlichen Wandels. Wir brauchen deshalb ein Innehalten, um zu überlegen, wie wir etwa Künstliche Intelligenz einsetzen wollen – oder wo eben die Grenzen verlaufen.

publik: Ein Nachdenken, das schon begonnen hat?
Jürgens: Die Debatte nimmt endlich Fahrt auf. Vor fünf Jahren schreckte eine Studie auf, nach der 47 Prozent der amerikanischen Arbeitsplätze von Rationalisierung bedroht sind. Das irritierte die Gesellschaft, vor allem die Politik. Dasselbe gilt für die große Frage des Datenschutzes, auf die die Menschen Antworten erwarten. Nachdem bis vor zwei, drei Jahren immer nur die Herausforderungen der Digitalisierung beschrieben wurden, liegen inzwischen konkrete Lösungsansätze der Forschung vor – die müssten aber auch aufgegriffen werden.

publik: Welche Akteure können gestalten? Und wie?
Jürgens: Das ist vor allem der Gesetzgeber, der beispielsweise den Datenschutz sicherzustellen hat. Bei Konzernen wie Alphabet/Google müsste er die Steuern hier im Land entsprechend der tatsächlichen Aktivitäten einfordern.

publik: Und das kann er?
Jürgens: Die einzelnen Regierungen sind nicht so machtlos, wie sie sich oft darstellen, vor allem nicht, wenn sie gemeinsam für Europa eine Lösung suchen. Das gilt auch bei neuen Arbeitsformen: Um etwa Crowd oder Gig Worker sozial abzusichern, muss der Arbeitnehmerbegriff reformiert werden. Mit einem „Bestellerprinzip“ könnte man zudem Lohndumping und Konkurrenz eindämmen, weil ein deutscher Auftraggeber dann nach deutschen Regeln den Mindestlohn zahlen müsste, auch für einen Crowd Worker in Indien. Und der Betrieb, an den Rechte gekoppelt sind, trägt nicht mehr als Ansatzpunkt; vielmehr müsste die Wertschöpfungskette reguliert werden. Das würde beispielsweise verhindern, dass Arbeitgeber durch das Zerlegen von Betrieben in kleinste Einheiten die Mitbestimmung umgehen.
 

„Die Verteilungsfrage stellt sich neu“

publik: Ändern sich durch den technologischen Wandel die Machtverhältnisse zwischen Unternehmen und Angestellten?
Jürgens: Das hängt davon ab, in welcher Branche Sie arbeiten. Es wird in Zukunft eher einen Mangel an Arbeitskräften geben in Bereichen wie IT und Softwareentwicklung, in Gesundheitsberufen oder der Medizin. Da lassen sich dann Interessen besser durchsetzen. Auf anderen Berufsfeldern wird rationalisiert, etwa in der Logistik. Viele Lagerhallen sind bereits jetzt fast menschenleer. Der Gesellschaft geht die Arbeit nicht aus, aber es wird eben zu Verschiebungen kommen.  Wir brauchen deshalb eine Qualifizierungsoffensive, damit niemand abgehängt wird.

publik: Genau das ist in den USA schiefgelaufen, sagen viele. Mit den bekannten Folgen an der Wahlurne…
Jürgens: Strukturwandel muss und kann man organisieren: durch Qualifizierung, durch Steuerung.

publik: Das heißt, jetzt zeigen sich die Stärken eines aktiven Sozialstaats?
Jürgens: Ja. Und nicht nur des Sozialstaates, sondern auch der Sozialpartnerschaft nach deutschem Modell. Das hat sich übrigens schon 2008/2009 bewährt, als die Folgen der Finanzkrise für den Arbeitsmarkt durch Kurzarbeit oder Arbeitszeitkonten abgefangen wurden. Auch in der näheren Zukunft werden wir eine aktive Arbeitsmarkt- und Arbeitszeitpolitik brauchen.

publik: Werden wir also weniger arbeiten?
Jürgens: Mit technologischem Fortschritt stellt sich die Verteilungsfrage neu. Intelligente Maschinen und Algorithmen können etwas Positives sein, wenn sie den Wohlstand vermehren und dieser Wohlstand gerecht verteilt wird. Wir müssen das in Bereichen, die stark automatisiert werden, ernsthaft diskutieren. Die Automatisierung spart Personalkosten und soll die Produktivität steigern. Dies kann für Arbeitszeit-Verkürzungen genutzt werden, verbunden mit Weiterbildung. Qualifizierung darf nicht mit dem Berufseinstieg enden. Den Universitäten kommt hier eine neue Aufgabe zu: Sie werden sich absehbar auch als Weiterbildungsanbieter aufstellen müssen.
 

„Eine Maschine sollte keine Entscheidung alleine treffen“

publik: Wo wir beim Thema Arbeitszeit sind: Manche Mediziner erwarten künftig eine Lebenserwartung von 120 Jahren oder mehr. Müssen wir aufs ganze Leben gesehen länger arbeiten?
Jürgens: Da wäre ich vorsichtig. Es gibt Berufe, die sind extrem verschleißend. Jetzt können Sie sagen, da hilft doch die Hebe-Robotik der Pflegerin, den Patienten aus dem Bett zu bekommen. Es bleibt dennoch ein anstrengender Beruf. Es mag Gruppen geben, die künftig länger erwerbstätig sein können, aber ein längeres Leben bedeutet noch nicht eine längere Leistungsfähigkeit.   

publik: Hebt die Digitalisierung die Trennung zwischen privater Zeit und Berufstätigkeit auf?
Jürgens: Wir werden zeitlich und räumlich flexibler. Das ist für Eltern und Pflegende ein Vorteil. Das darf aber nicht zu einer Rund-um-die-Uhr-Arbeit führen. Wissen Sie, wir müssen den Menschen mit seinen Bedürfnissen wahrnehmen und den Wandel von dieser Position aus gestalten – statt zu versuchen, den Maschinen immer ähnlicher zu werden.

publik: Diese Tendenz gibt es, nicht wahr? Algorithmen, die Bewerbungen sortieren, starre Workflows, exakte Formulierungsvorgaben in Call Centern…
Jürgens: Wir müssen die Sinnlichkeit des Menschen stärken. Digitale Medien in Schulen? Okay. Vernetzte Uni? Auch wichtig. Aber letztendlich ist es entscheidender denn je, die Menschlichkeit und die Empathiefähigkeit zu fördern. Wir sind an einem Punkt in der Geschichte angelangt, an dem die Maschinen schlauer werden als die Menschen. Was aber Menschen noch besser können als Maschinen ist: andere Menschen zu verstehen. Das dürfen wir uns nicht abnehmen lassen. Wir müssen klären, welche Entscheidungen wir Algorithmen überlassen, und regelmäßig überprüfen, welche Folgen das hat. Eine Maschine sollte nie eine Entscheidung alleine treffen: kein Gerichtsurteil fällen, keine ärztliche Diagnose stellen, kein Personal auswählen.

 

Interview: Sebastian Mense und David Wüstehube