28.09.2021 | Porträts und Geschichten

Hörsäle von unten und Spaghetti im Webstuhl

50 Jahre – 50 Treffen: Über die App „Treffen wir uns“ lädt die Uni in Großküchen, Keller, Forschungslabore und andere ungewöhnliche Orte – mit Überraschungsfaktor

„Achtung, Kopf!“, hallt es durch den engen Gang. Ich halte inne, direkt vor mir in wenigen Zentimetern Entfernung: ein großes silberfarbenes Rohr. „Hier ist Vorsicht geboten, die Gänge sind nicht sehr hoch“, warnt Dirk Schnurr. Draußen brennt die Sonne, drinnen leuchten LED-Lampen kühl den Gang aus. Ich blicke am Rohr vorbei, hinter dem sich ein Flur im Bauch der Uni verliert. Hinter uns fällt die Metalltür ins Schloss.

Vorsichtig folge ich Schnurr auf seiner Reise. Der Energiemanager gibt mir heute einen Vorgeschmack seiner Tour „In den Kellern der Uni“, mit der er im November Gäste in den Unterbau der Hochschule führen wird. Sie ist eine von 50 Begegnungen, die die Universität zum Jubiläum über eine App organisiert. Das Besondere: Die Teilnehmer bekommen ein Treffen zugelost. „Statt sich eigenständig Themen auszusuchen, kommen unsere Teilnehmer an Orte, die sie sonst vielleicht nicht angesteuert hätten, mit Leuten, denen sie sonst nicht begegnen würden: eine tolle Möglichkeit, das Gewohnte hinter sich zu lassen und Neues zu entdecken“, erläutert App-Koordinatorin Kathrin Meckbach. „Für die 50 Treffen haben wir Orte ausgesucht, die teilweise sonst nicht zugänglich sind. Wir wollen damit einen Blick hinter die Kulissen der Forschung und des Uni-Betriebs geben.“ So entdecke auch ich einen neuen Ort. Nie hatte ich mir über die Kellerräume der Uni Gedanken gemacht und nun stehe ich mittendrin. Von den zahlreichen Studierenden über uns ist nichts mehr zu hören. Der Hall arbeitender Maschinen dominiert. Metall-Kanäle durchbrechen die Eintönigkeit der grauen Betonwände. Sie verlaufen über die gesamte Länge des Flures, bestückt mit vielen dünnen Kabeln.

„Von den Kellern aus führen Leitungen und Kabel in jedes Gebäude auf dem Campus. Strom, Wasser und Heizung – das alles können wir zentral steuern. Am Südcampus allein werden jährlich etwa 12.000 Megawattstunden Wärme benötigt. Diese wird zu einem großen Teil als Fernwärme von den Stadtwerken bezogen und zum kleineren Teil mit einem eigenen Block-Heizkraftwerk erzeugt. Die Menge entspricht etwa 1,2 Millionen Litern Heizöl. Genug, um 600 Einfamilienhäuser ein Jahr lang zu beheizen“, weiß Schnurr. Tür um Tür geht es tiefer ins Labyrinth. „Keine Angst, die meisten finden wieder raus“, scherzt er.

Eine kleine Treppe, drei Stufen führen auf ein stählernes Gitter, auf dem ein aufrechtes Stehen nicht mehr möglich ist. Unter uns transportieren große Rohre Wasser zum Campus. Über uns: Gasrohre und Kabelkanäle. Gebückt bahnen wir uns einen Weg durch die enge, kaum beleuchtete Passage, umringt von Haustechnik und begleitet vom Klirren aufeinanderschlagenden Metalls. Nach wenigen Metern führt eine Treppe hinab, Stehen ist wieder möglich. Inzwischen sind wir unter dem Hörsaal 1 im Campus Center angekommen. Mir wird bewusst, wie aufwendig die Universität versorgt wird. „Dass wir arbeiten, bemerken die meisten erst, wenn ausnahmsweise etwas nicht funktioniert und der Hörsaal kalt bleibt“, bemerkt Schnurr. Wir blicken in einen kleinen, dunklen Nebenraum. Die Decke sinkt hier treppenförmig ab, durch regelmäßige kleine Löcher dringt etwas Licht in den Raum. „Diese Öffnungen führen direkt in den Hörsaal über uns. Heiß- und Kaltluft gelangen je nach Jahreszeit in die Fußräume der Sitzreihen und temperieren ihn auf 23 Grad. Wenn Sie sich im Hochsommer je gefragt haben, warum Sie bei der Vorlesung kalte Füße bekommen, kennen sie nun die Antwort“, erklärt Schnurr weiter. „Aber wie überall sind auch wir auf unseren ökologischen Fußabdruck bedacht. Wir optimieren unseren Energieverbrauch immer weiter und bemühen uns, Systeme zu verbessern.“

Unterschiedliche Treffen, unterschiedliche Orte

Insgesamt 50 Gastgeber und Gastgeberinnen öffnen ihre Türen. Am Institut für Werkstofftechnik wird beispielsweise erforscht, was Werkstoffe zusammenhält. „Gezielt zerstören wir Proben und Bauteile und analysieren, was bei einem Crash auf atomarer Ebene passiert. Live im Labor untersuchen wir die Auswirkungen. Sicher ist: Dinge werden zu Bruch gehen“, verspricht Prof. Dr. Thomas Niendorf für sein Treffen „Atome unter Stress – Einblicke in den Arbeitsalltag in der Werkstofftechnik“. Prof. Dr. Nikola Roßbach führt durch das literarische Kassel, und in Witzenhausen besichtigen Gäste den Lehr- und Lerngarten.

Auch die Kunsthochschule ist dabei. „Ich freue mich, die Studienwerkstatt Textil der Öffentlichkeit vorstellen zu können“, begrüßt Nadja Porsch beim Proberundgang. Sie öffnet eine Tür und wir betreten eine große, hell erleuchtete Werkstatt. Unterschiedliche Geräte zur Textilbearbeitung stehen Seite an Seite vor einer großen Fensterfront. „Dieser Webstuhl ist noch völlig analog“, erläutert Porsch und zeigt auf ein Objekt direkt vor uns. „So lernen unsere Studierenden die Grundlagen des Webens, bevor es an die digitalen Varianten geht.“ Unfertige Teppiche hängen an den Wänden, einer davon mit einer großen Lücke in der Mitte. „Hier hat ein Student einen Fehler beim Spannen gemacht, die Arbeit ist leider gerissen. Aber auch durch Fehler lernen wir etwas über Materialien und deren Verhalten. Wir haben Rohstoffe mit unterschiedlichsten Eigenschaften zur Verfügung. Viele davon wachsen auch hier bei uns in Deutschland. Statt Material um die halbe Welt zu transportieren, könnten wir viel mehr vor Ort produzieren“, findet Porsch. Nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch wird hier gearbeitet. Auch ich darf mich beim Siebdruck beweisen, einer Technologie, bei der Farbe durch ein feinmaschiges Gewebe auf ein Textil gedruckt wird. Die Motivauswahl: vielfältig. Neben Schablonen für BlumenMuster lehnt eine mit drei Sushi-Rollen. „Unsere Studierenden haben diese Schablonen selbst entworfen. Sie konnten dabei ihrer Kreativität freien Lauf lassen. Das macht für mich den Reiz dieser Arbeit aus. Jeden Tag kommen Studierende mit neuen Ideen und probieren einfach mal aus. Manches geht schief, aber manches entpuppt sich dann als Innovation. Eine Studentin hat es geschafft, aus Schalentieren eine Paste zum Siebdrucken zu gewinnen!“, erzählt Porsch. „Auch Spaghetti wurden hier schon eingewoben.“ Das Ziel: „Die statischen Unterschiede vor und nach dem Kochen zu erforschen."

 

Die App wurde programmiert vom FG ComTech und ist im Apple App Store und bei Google Play erhältlich. Treffen finden noch bis zum Frühjahr 2022 statt.
Info: www.50jahre-unikassel.de

 

Dieser Beitrag erschien im Universitäts-Magazin publik 2021/3. Text Dennis Müller