13.12.2021

Arrivederci Goethe Tischbein und die Kunst der Niederlande

Ein einziges Gemälde machte Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751-1829) weltberühmt: Seine Darstellung Johann Wolfgang von Goethes in der römischen Campagna ist das wohl bekannteste Bildnis des Dichterfürsten und brachte dem Künstler den Beinamen „Goethe-Tischbein" ein. Für die Einordnung des Malers ist das sicher hilfreich. Immerhin gehören zur Künstlerdynastie Tischbein rund 30 Künstlerinnen und Künstler aus drei Generationen. Der Persönlichkeit und dem Wirken Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins wird diese Reduzierung auf ein Werk aber keinesfalls gerecht. Sein grafisches Oevre ist ebenso beeindruckend wie seine detaillierten Aufzeichnungen über niederländische Kunst, die er während einer Reise in den Jahren 1772/73 intensiv studierte.

Ziel meiner Dissertation an der Kunsthochschule Kassel war es, die Rezeption niederländischer Kunst um 1800 im deutschen Raum zu untersuchen - und Johann Heinrich Wilhelm Tischbein ist ein wunderbares Beispiel dafür. Während seines einjährigen Aufenthaltes in den Niederlanden besuchte er eine Vielzahl Privatsammlungen, Auktionen und Ausstellungen, kam mit Sammlern und Kunsthändlern in Kontakt. Es waren Begegnungen, die ihn tief beeindruckten. Wie sehr, zeigen seine „Lebenserinnerungen", die er im höheren Lebensalter aufzeichnete und in denen er der niederländischen Kunst die größte Aufmerksamkeit widmete.

Tischbein verfügte über eine gute Beobachtungsgabe und ein exzellentes Gedächtnis.  Nur so lässt sich die Detailfülle erklären, mit der er seine Eindrücke auch Jahrzehnte nach der Reise wiedergab: Ausführlich beschrieb er zahlreiche Werke niederländischer Maler - unter anderem Rembrandt van Rijn oder Philips Wouwerman - und definierte die wichtigsten Merkmale von Kunst des „Goldenen Zeitalters". Er berichtete aber auch anschaulich von der Praxis bedeutender Kunstsammler. Wonach wählten sie die Gemälde aus? Wer war regelmäßig bei ihnen zu Gast und welche Künstler gehörten seiner Ansicht nach in ein klassisches niederländisches Kabinett? Tischbeins Erzählungen zeugen von tiefer Bewunderung und liefern wertvolle Informationen - für Kunsthistoriker ebenso wie Historiker.

Der Einfluss niederländischer Kunst auf das Leben und Wirken Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins war zuvor noch nie wissenschaftlich untersucht worden. Umso spannender war es für mich, Stück für Stück in die Erinnerungen an seine Niederlande-Reise einzutauchen. Ein Großteil der Materialien, die mir für mein Forschungsprojekt zur Verfügung standen, entstammen dem Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte in Oldenburg, wo Tischbein einst als Hofmaler des Herzogs Peter Friedrich Ludwig tätig war. Weitere Dokumente fand ich im Nachlass von Carl Georg Wilhelm Schiller im Stadtarchiv Braunschweig sowie im Archiv der Museumslandschaft Hessen Kassel.

Drei Orte, ein aufwendiges Forschungsprojekt: Das Zusammentragen von Informationen und Zitaten glich deshalb oft einem gigantischen Puzzle. Doch genau diese Detektivarbeit war für mich besonders reizvoll. Mit jeder neuen Entdeckung in Tischbeins umfangreichem Nachlass wurde das Bild des Künstlers differenzierter. Meine Erkenntnisse zeigen, dass er weit mehr war als der Maler, der gemeinsam mit Goethe Italien bereiste. Er war auch ein Chronist und Kunstkenner, der die Rezeptionsgeschichte der niederländischen Kunst um 1800 für uns greifbarer macht.

Mit der Dissertation ist die Tischbein-Forschung für mich aber noch lange nicht abgeschlossen: Inzwischen bin ich am Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte in Oldenburg tätig, wo sich ein Großteil des Nachlasses von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein befindet. Hier kuratiere ich die Sonderausstellung „Vortreffliche Niederländer – Der Oldenburger Hofmaler Tischbein und die niederländische Kunst“. Zudemwidme ich mich in einem zweijährigen Projekt ausschließlich Tischbeins grafischen Werken, die in der Kunstgeschichte ebenfalls bislang nur selten Beachtung fanden. Die unbearbeitete Sammlung umfasst insgesamt 1500 Zeichnungen, Aquarelle und Druckgrafiken - von grob skizzierten Figuren über detaillierte Porträtstudien bis hin zu farbenfrohen Tierdarstellungen und Fabelillustrationen. Diese Werke zu erschließen und sie Tischbeins zahlreichen künstlerischen und literarischen Projekten zuzuordnen, ist eine ebenso spannende wie herausfordernde Aufgabe.

Goethe wird auch in diesem Forschungsprojekt keine Rolle spielen. Und wer weiß, vielleicht wird Johann Heinrich Wilhelm Tischbein ja irgendwann aus dessen Schatten heraustreten und als der facettenreiche Künstler wahrgenommen werden, der er war.

Dr. Stefanie Rehm (35) studierte Kunstgeschichte und Kulturanthropologie in Tübingen und Hamburg. Anschließend promovierte sie an der Kunsthochschule Kassel zum Thema „Tischbein und die Kunst des ,Goldenen Zeitalters´ - Rezeptionsgeschichte(n) um 1800". Inzwischen arbeitet Rehm am Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte in Oldenburg und ist ihrem Spezialgebiet treu geblieben: In ihrem aktuellen Forschungsprojekt beschäftigt sie sich mit den grafischen Werken Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins.