18.11.2022 | Pressemitteilung

Studierende können Effektivität von Lernmethoden besser einschätzen als gedacht

Lernende können die Erfolgsaussichten von Lernstrategien besser einschätzen als bislang angenommen – das ist das Ergebnis einer Studie der Universität Kassel. In Experimenten konnten Probandinnen und Probanden im Durchschnitt überraschend genau vorhersagen, mit welcher Lernmethode sie mehr von einem bestimmten Lernstoff behalten. Mehr noch, sie konnten ihre Einschätzung sogar im Hinblick darauf anpassen, wie lange nach der Lernphase das Gelernte abgerufen werden kann. Dieses Ergebnis widerspricht bisherigen Annahmen der Forschung und ist sowohl für das schulische als auch für das universitäre Lernen relevant.

zwei Studentinnen in einer LernsituationBild: Blafield
Testung ist die bessere Lernstrategie als wiederholtes Lesen.

Lernen Menschen aktiv, indem sie Inhalte zunächst lesen und dann in einem Test wiedergeben, behalten sie den Lernstoff länger, als wenn sie ihn über die gleiche Zeit mehrmals passiv aufnehmen. Dieser Effekt ist in der Lernforschung als Testungseffekt bekannt. Insbesondere, wenn es um das langfristige Einprägen von Inhalten geht, ist es daher ratsam, Inhalte nicht nur passiv aufzunehmen, sondern sie zusätzlich in Tests abzufragen.

Bislang ging man davon aus, dass Lernende selbst diesen Testungseffekt nicht gut einschätzen können und zum Beispiel wiederholtes Lesen für lernförderlicher halten als den aktiven Abruf aus dem Gedächtnis. Entsprechend kämen Lernende nicht auf die Idee, sich selbst zu testen, wenn sie sich auf eine Prüfung vorbereiten, so die bisherige Annahme der Forschung.

„Unsere Versuche zeigen aber, dass Lernende mehr über den Nutzen des Testens wissen, als dies die bisherigen Forschungsergebnisse nahelegen. Insbesondere können sie überraschend gut zwischen dem kurzfristigen und dem langfristigen Nutzen von Lernstrategien, die einen aktiven Wissensabruf erforderlich machen, und passiven Strategien unterscheiden“, so Prof. Dr. Ralf Rummer, Leiter des Fachgebiets Allgemeine Psychologie an der Universität Kassel. Gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Dr. Sophia Weissgerber führte er dazu mehrere Experimente durch, an denen über 300 Studierende aller Fachbereiche und Semester teilnahmen.

In einem der Experimente wurden die Versuchspersonen in drei Gruppen eingeteilt. Allen Teilnehmenden wurde zunächst der gleiche Text über das Verhalten von Honigdachsen präsentiert. Danach zeigte man ihnen Instruktionen zu zwei Lern-Varianten: wiederholtes Lesen oder Abfrage in einem Test. Anschließend sollten die Versuchspersonen aus Gruppe 1 einschätzen, mit welcher Lernmethode sie einen wie hohen Anteil des Lernstoffs nach fünf Minuten wiedergeben könnte. Die zweite Gruppe schätzte ihre Erfolgsaussichten für den zeitlichen Abstand einer Woche, die dritte Gruppe für einen Abstand von zwei Wochen ein.

Das Resultat war eindeutig: Anders als bisher angenommen, konnten die Versuchspersonen korrekt vorhersagen, dass durch Tests der langfristige Lernerfolg im Vergleich zu wiederholtem Lesen deutlich verbessert wird. Vor allem zwischen den Erfolgsaussichten zu verschiedenen Testzeitpunkten konnten sie sehr gut unterscheiden: Je weiter der finale Test in der Zukunft lag, desto größer der prognostizierte Vorteil für die Testungsbedingung. Das entspricht exakt den tatsächlichen Lernergebnissen, die zuvor in einer separaten Studie erhoben worden waren.

Dass die Wissenschaft bislang davon ausging, Lernende hielten das bloße Wiederholen des Lernstoffs für effektiver als Testung, hängt mit dem Versuchsaufbau vergangener Studien zusammen. Denn in diesen Studien zur Selbsteinschätzung haben die Probanden stets tatsächlich mit den unterschiedlichen Strategien gelernt, bevor sie ihren Lernerfolg vorhersagen sollten. Im Falle wiederholten Lesens entwickelten diese ein Vertrautheitsgefühl, das zu guten Lernprognosen führt, so die Forschenden. Nach der aktiven Wissensabfrage dagegen ergibt sich das Gefühl, das Lernmaterial nicht so gut zu beherrschen wie erwartet, was wiederum zu schlechteren Prognosen führt. DieEinschätzungen der Lernenden in diesen Studien spiegeln dementsprechend weniger ihr Wissen über die Effektivität verschiedener Lernstrategien wider als die subjektive Erfahrung in der kurz vorher erlebten Lernsituation“, erläutert Rummer. „Basierend auf unseren Ergebnissen ist davon auszugehen, dass Lernende ihr Wissen über die Effektivität des Testens durchaus nutzen können, wenn sie sich termingenau auf Prüfungen vorbereiten. Wenn sie trotzdem ineffektive Lernmethoden wählen, dann liegt dies vermutlich weniger an ihrer Unwissenheit, als daran, dass sie die Klausurvorbereitung nicht gut genug planen oder Selbsttestung ganz einfach zu anstrengend finden.“

Die Studie wurde in der internationalen Fachzeitschrift Learning and Instruction veröffentlicht.

Weissgerber, S.C.* & Rummer, R.*(2022). More accurate than assumed: Learners’ metacognitive beliefs about the effectiveness of retrieval practice. Learning & Instruction. https://doi.org/10.1016/j.learninstruc.2022.101679
(* Geteilte Erstautorenschaft)

 

Kontakt:

Prof. Dr. Ralf Rummer

Universität Kassel
Leiter des Fachgebiets Allgemeine Psychologie

rummer@uni-kassel.de
Tel. +49 561 804-3592