10.03.2022 | Pressemitteilung

Stummelfüßer-Gehirn in High Definition

Zoologen der Universität Kassel haben in noch nie dagewesenem Detail eine 3D-Rekonstruktion des Nervensystems eines Stummelfüßers erstellt. Sie entwickelten ein einheitliches Glossar, kartierten und charakterisierten die neuroanatomischen Strukturen bis ins kleinste Detail – dabei entdeckten sie auch bisher unbekannte Strukturen.

Bild: Christine Martin.
Links: Dreidimensionale Rekonstruktion zerebraler Strukturen des Stummelfüßers E. rowelli. Mitte: konfokale Aufnahme eines mit Antikörpern eingefärbten Ausschnitts des Gehirns. Rechts: Dreidimensionale Rekonstruktion dieses Ausschnitts.

Stummelfüßer (Onychophoren) leben in tropischen und gemäßigten Wäldern der südlichen Hemisphäre sowie rund um den Äquator. Der Körperbau der meist etwa fünf Zentimeter langen, wirbellosen Tiere hat sich seit etwa 300 Millionen Jahren nur wenig verändert. Sie spielen deshalb eine wichtige Rolle für das Verständnis der Evolution der Gliederfüßer (Spinnen, Hundert- und Tausendfüßer, Krebstiere und Insekten) der artenreichsten Tiergruppe der Erde, mit denen die Stummelfüßer verwandt sind. Es wird vermutet, dass der Erfolg der Gliederfüßer sowohl mit der Segmentierung ihres Körpers, also eine Unterteilung in gleichartige Einheiten oder Segmente, als auch des Nervensystems zusammenhängt. Die Untersuchung von verwandten Arten kann Aufschluss geben darüber, wie sich Organsysteme entwickelt und im Laufe der Zeit verändert haben.

Fotografie des Stummelfüßer Euperipatoides rowelli.Bild: Christine Martin.
Stummelfüßer Euperipatoides rowelli.

„Bisher gab es Unstimmigkeiten in der Nomenklatur und ‚blinde Flecken‘ auf der neuroanatomischen Landkarte der Stummelfüßer. Unsere Daten klären diese wissenschaftlichen Kontroversen auf und machen künftige neuroanatomische Studien von Stummelfüßern reproduzierbarer und vergleichbarer“ erläutert Prof. Georg Mayer, Leiter des Fachgebiets Zoologie der Universität Kassel.

Gemeinsam mit weiteren Zoologen und Neurowissenschaftlern kombinierten er und sein Team verschiedene bildgebende Verfahren auf dem neuesten Stand der Technik für eine detailreiche Analyse des Nervensystems der Stummelfüßer-Art Euperipatoides rowelli: Röntgen-Mikro-Computertomographie am Deutschen Elektronen-Synchrotron DESY, Histologie, Immunhistochemie und hochauflösende konfokale Mikroskopie. Daraus entwickelten sie ein umfangreiches neuroanatomisches Glossar und rekonstruierten ein dreidimensionales Modell des Nervensystems. „Denn ohne ein solches Modell und eindeutige Terminologie sind vergleichende Analysen kaum möglich“ erklärt die Erstautorin der Studie Christine Martin, die kurz vor dem Abschluss ihrer Promotion steht.

Diese Analysen liefern neue Details zu bereits bekannten Hirnarealen. Sie bekräftigen damit die These, dass der sogenannte Zentralkörper und die Pilzkörper von Stummelfüßern und Gliederfüßern auf neuroanatomische Strukturen zurückgehen, die bereits bei ihrem letzten gemeinsamen Vorfahren existierten (Homologien). Dagegen haben sich die Nervenstränge in den Antennen und der Bereich im Gehirn, der der Verarbeitung von Gerüchen dient (Riechlappen) bei Stummelfüßern und Gliederfüßern höchstwahrscheinlich unabhängig voneinander entwickelt. Im Gegensatz zu früheren Berichten fanden die Forschenden keine Hinweise auf ein visuelles Neuropil (Nervenfasergeflecht) zweiter Ordnung. Auch die Annahme eines potenziellen Nervenknotens, des sogenannten „Frontalganglions“, im Frontalbereich des Kopfes der Stummelfüßer konnten sie entkräften. Darüber hinaus enthüllten die Daten noch nie dagewesene Details des Stummelfüßer-Gehirns: Jeder Pilzkörper von E. rowelli besteht aus vier und nicht nur aus drei Lappen. Die angeblichen „akzessorischen Stiele“ sind nicht Teile der Pilzkörper, sondern unabhängige Nervenverbindungen, die mit den antennalen und subantennalen Neuropilen verbunden sind und beide Gehirnhälften miteinander verbinden. Der Zentralkörper der Stummelfüßer ist komplexer als bisher angenommen. Des Weiteren haben die Autorinnen und Autoren weitere Neuropilregionen unbekannter Funktion beschrieben, wie den Frontalkörper und die winzigen Microglomeruli.

 

Veröffentlichung:

https://bmcbiol.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12915-021-01196-w

 

Kontakt:

Prof. Dr. Georg Mayer
Institut für Biologie
Fachgebietsleitung Zoologie
Telefon:  0561 804-4805
E-Mail: gmayer[at]onychophora[dot]com

 

Pressekontakt:

Sebastian Mense
Universität Kassel
Kommunikation, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Telefon: 0561 804-1961
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