21.08.2023 | Pressemitteilung

Generisches Maskulinum: Das Gehirn muss Unstimmigkeiten überwinden

Wie reagiert das Gehirn auf die Erwähnung von Männern versus Frauen nach dem generischen Maskulinum? Dieser Frage ging ein Forschungsteam am Fachgebiet Allgemeine Psychologie an der Universität Kassel nach. Hierbei konnte erstmals mit neurowissenschaftlichen Methoden nachgewiesen werden, dass das generische Maskulinum Frauen und Männer nicht gleichermaßen repräsentiert.

Das Bild zeigt eine Person vor einem Computerbildschirm: Mit am Kopf angebrachten Elektroden wurde die elektrische Aktivität des Gehirns beim Lesen verschiedener Satzkombinationen gemessen
Mit am Kopf angebrachten Elektroden wurde die elektrische Aktivität des Gehirns beim Lesen verschiedener Satzkombinationen gemessen (Foto: Uni Kassel/Gebhardt)

Mithilfe von an der Kopfoberfläche von Versuchspersonen angebrachten Elektroden wurde in zwei Experimenten die elektrische Aktivität des Gehirns beim Lesen verschiedener Satzkombinationen gemessen. Die verwendeten Textpassagen lauteten z.B.: „Die Kellner liefen durch den Bahnhof. Es war offensichtlich, dass die meisten Männer gut gelaunt waren.“ Oder: „Die Kellner liefen durch den Bahnhof. Es war offensichtlich, dass die meisten Frauen gut gelaunt waren.“

Obwohl das Wort „Kellner“ als sogenannte generische Personenbezeichnung (d.h. Personen jedweden Geschlechts sind gemeint) zu verstehen ist, ist die Satzverarbeitung beeinträchtigt, wenn im zweiten Satz von Frauen (anstelle von Männern) die Rede ist. Ein solcher Effekt, der „Male Bias“ genannt wird, wurde bereits mehrfach in Verhaltensexperimenten – auch an der Universität Kassel – demonstriert. Versuchspersonen in diesen Experimenten akzeptierten eine Fortführung mit dem Wort „Männer“ häufiger (und schneller) als adäquaten Fortgang des ersten Satzes als eine Fortführung mit dem Wort „Frauen“.

Die an der Universität Kassel durchgeführten Elektroenzephalographie-Studien (EEG) liefern nun erstmals den Beweis für neuronale Verarbeitungskonflikte bei einer femininen (vs. maskulinen) Bezugnahme nach dem generischen Maskulinum. „Die Ergebnisse unserer Studien zeigen, dass das Gehirn mit mehr Verarbeitungsaufwand reagieren muss, wenn nach der Einführung einer Personengruppe im generischen Maskulinum im nächsten Satz von Frauen als von Männern die Rede ist“, so Dr. Sarah Glim, Mitarbeiterin im Fachgebiet Allgemeine Psychologie und Erstautorin der beiden neurowissenschaftlichen Studien. „Die erhobenen EEG-Daten erlauben uns eine präzise Identifikation der relevanten Verarbeitungsphasen. Bereits auf Ebene der visuellen Wahrnehmung (Studie 1) und noch einmal während der eigentlichen sprachlichen Verarbeitung (Studie 2) des Wortes ‚Frauen‘ muss das Gehirn Unstimmigkeiten überwinden.“

In einem Verhaltensexperiment wurde zudem eine derzeit häufig genutzte alternative Form, die in der gesprochenen Sprache mit einem Glottisschlag vor dem „innen“ (z.B. „Kellner*innen“) realisiert wird, untersucht. Bei der Glottisschlag-Form akzeptierten Versuchspersonen eine Fortführung mit dem Wort „Frauen“ im zweiten Satz häufiger (und schneller) als eine Fortführung mit dem Wort „Männer“. Ob dieser sogenannte „Female Bias“ bei der Glottisschlag-Form auf eine erschwerte neuronale Verarbeitung des Wortes „Männer“ (vs. „Frauen“) zurückgeht, ist bisher unbekannt und soll deshalb im Rahmen eines aktuell beantragten Forschungsprojekts untersucht werden.

„Wir geben keine Empfehlungen hinsichtlich der Verwendung bestimmter Sprachformen“, betont Prof. Dr. Ralf Rummer, Leiter des Fachgebiets Allgemeine Psychologie und Koautor der Studien. „Unsere Aufgabe ist es, der Gesellschaft – das umfasst jede einzelne Person, aber auch die Politik oder den Rechtschreibrat – Informationen zur Verfügung zu stellen, auf deren Basis wissenschaftlich informierte Entscheidungen getroffen werden können. Das Aufstellen von Verhaltensregeln gehört nicht zu unserem Aufgabengebiet.“

Neurowissenschaftliche Studien:
(Studie 1) Glim, S., Körner, A., Härtl, H., & Rummer, R. (2023). Early ERP indices of gender-biased processing elicited by generic masculine role nouns and the feminine–masculine pair form. Brain and Language, 242, 105290. https://doi.org/10.1016/j.bandl.2023.105290

(Studie 2) Glim, S., Körner, A., & Rummer, R. (2023). Generic masculine role nouns interfere with the neural processing of female referents: Evidence from the P600. PsyArXiv. https://doi.org/10.31234/osf.io/6bkxd

 

Verhaltensexperimente:
Körner, A., Abraham, B., Rummer, R., & Strack, F. (2022). Gender representations elicited by the gender star form. Journal of Language and Social Psychology, 41(5), 553–571. https://doi.org/10.1177/0261927X221080181

Körner, A., Glim, S., & Rummer, R. (2022). Examining the glottal stop as a mark of gender-inclusive language in German. PsyArXiv. https://doi.org/10.31234/osf.io/fr74p

 

Kontakt:
Prof. Dr. Ralf Rummer
Institut für Psychologie, Fachgebiet Allgemeine Psychologie
Tel.: 0561 - 804 3592
E-Mail: rummer[at]uni-kassel[dot]de

Dr. Sarah Glim
Institut für Psychologie, Fachgebiet Allgemeine Psychologie
Tel.: 0561 - 804 3578
E-Mail: sarah.glim[at]uni-kassel[dot]de